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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

] BILDERAUSSTELLUNGEN [ 
VINCENT VAN GOGH. 
V on den sechs modernen Bilderausstellungen, die im Laufe dieses 
Monats in Wien zugänglich sind, ist jene VINCENT VAN GOGHS 
bei Miethke (Graben 17) die weitaus interessanteste. Sie ist die wert' 
vollste, weil sie das Werk einer durchaus eigenartigen Persönlichkeit 
zeigt, eines Künstlers, der nichts Überliefertes, Handwerkliches, Fremdes 
übernommen, sondern durchaus sich selbst gab, sein persönliches 
Schauen und Naturempfinden in einer ganz persönlichen Darstellung. 
Van Goghs Schaffen ist von einer Unmittelbarkeit, die überrascht und 
entzückt, es ist eine phänomenale Erscheinung, das Vollbringen eines 
Menschen, der fieberheiß nach dem künstlerischen Ausdruck seines 
Wesens gerungen hat. Wir wissen nicht, wie weit das Geleistete ein 
Vollbringen war; es sind Briefe von ihm bekannt, Briefe an einen 
Freund, die einen ungeheuren Reichtum des Wollens offenbaren, über- 
stürzend vielleicht, ein Wollen immerhin, das aufs Ganze gerichtet 
ist und weiter hinaus will, als auf bloß malerische oder bildmäßige 
Gestaltung seiner Eindrücke und Gesichte. Seine Art, sich künstlerisch 
zu entäußern, war eine verzehrende, sein Kapital an Lebenskraft 
erschöpfte sich in diesem Ringen und darum blieben viele Hoffnungen 
seiner Briefe unerfüllt. 
Vielleicht war die Ungunst seines äußeren Schicksals schuld daran. 
Zum Teile sicherlich. Es war ein Martyrium. Er ging durch viele 
Berufe, war nacheinander Kaufmann, Schullehrer, Prediger, Kunst 
händler, war über dreißig Jahre alt, ehe er sich fand und anfing, 
sich darzustellen. Dann ging die Vollendung mit unheimlicher Ge 
schwindigkeit, mit Raserei. Was er malte, zählte in wenigen Jahren 
über tausend Bilder. Man kennt nicht alles. Im Hospital zu Arles, 
wo er zeitweilig Zuflucht nahm — ein paar ausgezeichnete Bilder 
davon sind in der Ausstellung — sah man Irre, mit blödsinnigem 
Lächeln, damit beschäftigt, van Goghs Bilder zu zerschneiden; nie 
mand kümmerte sich darum, kaum er selbst. Er hatte nur zu geben. 
Was er gab, war ganz gegeben. Aus den Bildern, durch das Material 
hindurch ist der zitterndheiße Lebensdrang zu spüren, das bebende, 
zuckende Loslösen der sichtbaren Form aus der Sphäre seiner künst 
lerischen Empfindung, die fast schmerzlich noch wirkende physische 
Gewaltsamkeit des Gebärens. Aber bei aller eruptiven Heftigkeit des 
Hervorbringens strahlt im Grunde seines Werkes die ruhige Schön 
heit aus, die der Künstler empfand und sichtbar zu machen strebte, 
die Natur in den einfachsten und ergreifendsten Zügen und die wunder 
bare Harmonie der Farben. So wurden seine Bilder ein seltenes kost 
bares Gewebe kühner, leuchtender Farben, kräftig zwar, aber auf die 
Komplementärwirkung hin mit ungewöhnlichem Raffinement gesucht 
und darum mild und kühl, mattschimmernd wie Seide, organisch wie 
die Natur und flächig wie Gobelins. 
Vincent war 1853 in Groot-Zunders, Holland, geboren. Am 28. Juli 1890 
gab er sich den Tod; es war seiner Umgebung völlig unverständlich. 
Er war aufgerieben; er wußte jedenfalls, daß er ein zu schwaches 
Gefäß für die Überfülle und den Drang seines inneren Lebens war. 
Seine Art Schaffen war Selbstvernichtung. 
DIE KUNST DRÜCKT NIEMALS ETWAS 
ANDERES AUS, ALS SICH SELBST. 
OSCAR WILDE. 
„DIE SCHOLLE“. 
in schweres Rätsel ist die Kunst. Eine Sphinx, Weib, Löwe, Adler, 
Fisch, vieldeutiges Symbol, ist Hauszeichen der dermaligen Aus 
stellung der Sezession und Plakat. Was soll's bedeuten? „Ein schweres 
Rätsel ist die Kunst“. Der Künstler als Maler beantwortet es gemäß der 
Kraft und Eindringlichkeit des eigenen Schauens, das „Eigengeschaute“ 
möglichst treu und unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, „Jeder 
bebaue seine Scholle“. Es ist kein Programm und zugleich das beste 
Programm, das die nun hier ausstellende Münchener Künstlergruppe 
zusammenhält, die sich also „Die Scholle“ nennt. Durch die Re 
produktionen der „Jugend“ sind die Mitglieder der Gruppe weithin 
bekannt; glücklicherweise erscheinen die Originale viel jugendlicher 
als in der „Jugend“. „Die Scholle“ will nicht Heimatkunst bedeuten, 
aber eine gemeinsame künstlerische Atmosphäre gibt ihr das lokale 
Gepräge, die örtlichen Züge, die Physiognomie der künstlerischen 
Heimat, um so schärfer ausgesprochen, je eigener und ursprünglicher 
das Geschaute und Dargestellte ist. 
Münchener Kunst, wenngleich nicht alle Mitglieder bajuvarischen 
Schlages sind. Die modernen Kunstanschauungen sind heute überall 
die gleichen; jedoch der Niederschlag ist, abgesehen von dem Mehr 
oder Weniger an Fähigkeit, naturgemäß überall anders. Aber gerade 
das ist das Köstlichste der Kunst, daß sie irgendwie lokalisiert und 
wurzelhaft ist. Trotz aller Differenzierung im einzelnen und Persönlichen 
und trotz vieler Verwandtschaft: Münchener Kunst und Wiener Kunst, 
das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Je mehr der Unterschiede 
wahrgenommen und festgestellt werden können, desto größer kann die 
gegenseitige Schätzung sein. „Die Scholle“ ist Münchener Elite, es muß 
logischermaßen sein, daß die Wiener Elite ganz anders ist. Man spürt 
das Lokale recht deutlich, wenn man „Die Scholle“ nicht in München, 
sondern, wie eben jetzt, in Wien sieht. Soviel zupackende Frische 
und ungestüme Freude an Licht und Farbe, soviel Lebenslust und 
Naturburschentum als „Die Scholle“ verkörpert, kann nur in der 
Bauernhauptstadt eines Bauernstaates lebendig bleiben. 
Münchener Kunst, das Wort wirkt wie eine Fanfare. Es ist nicht leicht, 
die Gefühle auszusagen, die sich in Deutschland mit diesem Wort ver 
binden. Ein Lächeln geht um die Lippen, wie in Erwartung von etwas 
sehr Lustigem, sehr Originellem, sehr Künstlerischem. Man sieht nur 
sorgloses, genußfrohes Lebensbehagen. In der Tat steht in München 
die Kunst dem Alltag näher als in irgend einer anderen Stadt. Sie ist 
eine Reagenz des Lebens, und bis zu einem gewissen Grade mag die 
Erwartung gerechtfertigt sein. Die Grundstimmung des Münchener 
Lebens steckt naturgemäß auch in der Münchener Malerei. Daß es 
gerade Bilder sind, den ungestümen Lebensdrang künstlerisch auszu 
drücken, hat sein eigenes Bewandtnis. Es erklärt sich aus der besonderen 
Stellung der Akademie und der Kunst in München zum Leben: der 
„Herr Kunstmaler“ ist dort eine Persönlichkeit, die in der Öffentlichkeit 
mitspielt. . 
Die Kunst ist dort eine sozial ausgleichende Macht wie das Bier. 
Sicherlich besteht zwischen diesen beiden Elementen eine geheime 
Beziehung. Das Münchnerische kommt in der „Scholle“, die nun in 
der Wiener Sezession eine Kollektiv-Ausstellung gemacht hat, sehr 
eindringlich zum Ausdruck. 
Aber Derbheit und Kraftmeierei sind keine wesentlichen künstlerischen 
Eigenschaften. Nicht nur in München, auch in anderen Kunstzentren 
haben die Künstler die eigene Scholle bebaut und es sind teilweise 
Erreichungen gewesen, die künstlerisch weitaus höher stehen. So ist 
es zu erklären, daß „Die Scholle“ in Wien nicht den Eindruck des 
Außergewöhnlichen macht. 
Die übergroßen Formate wirken leer; dem zuweilen’kann man die 
Vorstellung einer dekorativen Wirtshausmalerei nicht loswerden. Bei 
allem Temperament, die Gewöhnlichkeit, oft zur Geschmacklosigkeit 
gesteigert, hauptsächlich was die zahlreichen Aktstudien betrifft, ist 
der bleibende Eindruck. Selbst Fritz Erler, der unter den Leuten der 
„Scholle“ die größte künstlerische Zucht hat, ist nicht ganz frei. 
Seine Neigung zum Stilistischen ist ein etwas äußerliches Kompliment. 
Es geniert ihn noch nicht, daß er ein Bild unorganisch in drei Teile teilt, 
indem er zwei Rahmenstäbe durchlegt und eine Art Triptychon bildet. 
Auch der Stil will erlebt sein. In Wien ist er Erlebnis, das ist der Unter 
schied gegen München, vielleicht mehr als Unterschied, auch Vorsprung. 
Immer ist die; Natur der Ausgangspunkt; der Naturalismus ist eine 
Form, aber der Stil ist eine höhere Form. 
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