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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

DAS MYSTERIUM. 
In der Dichtung lebt der Schmerz einer Seele, die über 
die gewöhnliche Beobachtung des Nächstliegenden hinaus^ 
gegangen und vor dem großen Unbekannten steht, von 
dem das Leben umgeben ist. Wir mögen uns häuslich 
und wohnlich in unserem Dasein einrichten und hinter 
den festen Wällen menschlicher Satzungen und Ordnungen 
uns geschützt glauben gegen die geheimnisvollen Mächte, 
deren Brausen wir von draußen her vernehmen. Aus dem 
tiefen und unerschütterlichen Vertrauen, das jede in der 
Allheit ruhende Kreatur hegt, schöpfen wir den Glauben an 
freundliche Vorsehungen, die den Kreis unseres Machtbezirkes 
mit mildem Lichte erfüllt und die Meinung an eine Vorher^ 
bestimmung und Regelung des unbekannten Alls nach mensch^ 
lichem Gerechtigkeitsgefühl nährt. Das blinde Walten um 
schuldig grausamer Naturmächte in und außer uns, die 
augenscheinlich von anderen uns völlig unbekannten Gesetzen, 
Ursachen und Zielen bestimmt sind und als Verhängnis 
oder Tod eintreten, hat dieses Vertrauen, das die Art zu ihrer 
Erhaltung vielleicht nötig hat, nicht ganz zu erschüttern 
vermocht. Während der unheimliche Gast schon in unseren 
Mauern weilte, hat die Erkenntnis, daß unser Leben das 
Allerwichtigste und Maßgebendste im ganzen Weltall ist, eher 
zugenommen als abgenommen und die selbstgenährte Flamme 
unseres unbedingten Wissens leuchtet als das einzige Gestirn 
in dem Weltbereich, wo alles andere dunkel und unbestimmt 
ist. Aber nicht weniger wichtig ist die Erkenntnis, daß unser 
Leben nichtig ist und daß die Naturmächte kein Interesse 
an unseren Geschicken haben. Diese Erkenntnis ist notwendig, 
sie drängt zu Wachsamkeit und zur Beschäftigung mit dem 
Unerforschlichen, von dem wir alle abhängig sind. Jeder wie 
immer Schaffende sieht sich alsbald vor das Rätsel unseres 
Daseins gestellt und seine Aufgabe weist ihm die Rolle eines 
Kämpfers zu, der nicht die Ruhe des Bürgers hinter den 
gesicherten Dämmen genießt, sondern der auf den Wällen 
steht und seinen Blick auf das geheimnisvolle Kreisen und 
Fluten unbekannter Lebensmächte richtet. Alle Arbeit des 
Dichters, Denkers oder Künstlers ist auf dieses große Um 
bekannte gerichtet, das unserer Weltanschauung die rechte 
Tiefe und Stärke gibt. Ja, man kann sagen, daß jede Leistung 
um so bedeutsamer und wertvoller ist, je größer der Anteil 
jenes Mysteriums daran ist. Dagegen steht fest, daß die 
Werke, die nur alltägliche Tatsachen, platte Selbstverständ' 
lichkeiten, keine neuen Werte in die Welt gesetzt haben, 
als quantités négligeables zu betrachten sind. Die Unsterblich^ 
keit der schöpferischen Geister beruht im wesentlichen in 
der Unsterblichkeit des ewigen Problems, für die in den ver^ 
schiedenen Zeiten und verschiedenartigen Individualitäten bloß 
der Ausdruck wechselt oder die Formel. Kants „Ding an sich“ 
bildet den märchentiefen Hintergrund aller menschlichen Ur^ 
mythen und Legenden; es steht als fatalistische Schicksalsmacht 
hinter den Dramen der griechischen Tragiker seit Äschylus 
und erlebte im klassizistischen Frankreich seit Corneille als 
„heroische Pflicht“ eine seltsame Nachblüte; die Mystiker des 
Mittelalters verehrten es in christlicher Glaubensfurcht und in 
den Dramen Maeterlincks ist es der fast ausschließliche Inhalt 
der Handlung: die tödliche Angst vor dem Ungeheuerlichen, 
das Eingreifen feindseliger Mächte, die unpersönlich und unfaß^ 
bar sind und gerade die zartesten, untätigsten Blüten am leiclv 
testen befallen. Gerade in unserer Zeit der reifen und reichen 
Erkenntnisse und Aufklärungen sind die Rätselfragen des 
Daseins größer und deutlicher geworden; wer immer sich be^ 
müht, das Leben zu deuten, schreitet über die Wirklichkeit 
hinaus und sucht die Wahrheit des Unwirklichen zu erweisen. 
BONLODORI VON LAFCADIE HEARN.* 
♦ ♦ 
U ber die Berge nach Tzuma, dem Lande des Kamiye, 
des Götterzeitalters. Eine viertägige Korumafahrt mit 
kräftigen Läufern vom Stillen Ozean bis zur Japanü 
sehen See; denn wir haben die längste und wenigst befahrene 
Route gewählt. 
Der größte Teil dieser Reise führt durch Täler, Täler, die sich 
immer zu höheren Tälern öffnen, während der Weg ansteigt — 
Täler zwischen Bergen von Reisfeldern, deren Hänge sich in 
eingefriedeten Terrassen aufbauen, die wie ungeheure grüne 
Treppenstufen aussehen. über ihnen liegt der Schatten dunkler 
Zederm und Fichtenwälder und über diesen bewaldeten 
Gipfeln sieht man dunkelblaue ferne Hügel, überragt von 
zackigen, nebelgrauen Silhouetten. Die Luft ist lind und 
windstill und die Entfernungen sind von zarten Nebeln ver 
schleiert. Und an diesem duftigsten aller blauen Himmel, 
diesem japanischen Himmel, der mir immer höher erscheint 
als irgend ein anderer Himmel, den ich je gesehen, schweben 
Tag um Tag nur vereinzelte, durchsichtige, weiße, wallende 
Gebilde herum, wie Geister von Wolken, die auf dem Winde 
reiten. Aber manchmal, wenn der Weg emporsteigt, ver 
schwinden die Reisfelder für eine Weile: Gerste-, Indigo-, 
Roggen- und Baumwollfelder besäumen eine Strecke weit 
den Weg, der dann wieder in Waldesschatten versinkt. 
Das Allüberraschendste aber sind die Zedernwälder, die ab 
und zu die Straße begrenzen. Niemals habe ich außerhalb 
der Tropen eine Baumvegetation so dichter und kerzengerade 
aufstrebender Stämme gesehen — jeder Stamm steht kahl und 
aufrecht wie eine Säule. Diese Baumwand bietet das Schau 
spiel einer bleichen Säulenmasse, die sich zu einer Wolke 
dunklen Laubwerks emportürmt, von solcher Dichtheit, daß 
man über sich nichts sehen kann als in Schatten verlorenes 
Gezweig. Und die wenigen Lichtungen in der Palisade der 
dunklen Stämme sind nachtschwarz wie das Dunkel in Dorés 
Föhrenwäldern. 
Man sieht keine großen Städte mehr; nur Dörfer mit stroh 
gedeckten Häuschen schmiegen sich in die Falten der Hügel, 
jedes mit seinem buddhistischen Tempel, dessen spitzes, 
blaugraues Ziegeldach über die Strohdächer hinausragt und 
seiner Miya (Shintoschrein), mit dem Torii davor, gleich 
einem großen Ideogramm aus Stein oder Holz. 
Aber noch überwiegt der Buddhismus; jeder Hügelgipfel hat 
seine Tera und die Buddha- oder Bodhisattva-Statuen tauchen 
am Wegrain mit der Regelmäßigkeit von Meilensteinen auf. 
Oft ist eine Dorftera so groß, daß die sie umgebenden Häus 
chen der Landbevölkerung wie kleine Nebengebäude aussehen; 
und der Reisende begreift nicht, wie ein so kostspieliges 
Gotteshaus von einer so dürftigen Gemeinde erhalten werden 
kann. Und auf Schritt und Tritt machen sich die Zeichen 
des milden Glaubens bemerkbar; seine Ideogramme und 
Symbole sind auf den Felsenflächen eingemeißelt, seine 
Bilder lächeln dich aus jeder schattigen Straßennische an, ja, 
manchmal ist es, als ob die buddhistische Seele der Land 
schaft selbst ihr Gepräge aufgedrückt hätte, dort, wo die 
Hügel so sanft hinausschweben wie ein Gebet. Und wieder 
andere haben gewölbte Kuppeln wie das Haupt Shakas und 
das sie um wuchernde wellige Farnkraut gleicht dem Gekräusel 
seiner Locken. 
Aber nach und nach, indem die Tage verstreichen und wir 
auf unserer Reise immer mehr in den höheren Westen ge 
langen, werden die Teras immer seltener. Die buddhistischen 
Tempel, an denen wir vorüberkommen, sind klein und ärm 
lich und der Bilder am Wege werden immer weniger. Dafür 
* Siehe Bücher, die man lesen soll, Seite 202. 
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