DAS MYSTERIUM.
In der Dichtung lebt der Schmerz einer Seele, die über
die gewöhnliche Beobachtung des Nächstliegenden hinaus^
gegangen und vor dem großen Unbekannten steht, von
dem das Leben umgeben ist. Wir mögen uns häuslich
und wohnlich in unserem Dasein einrichten und hinter
den festen Wällen menschlicher Satzungen und Ordnungen
uns geschützt glauben gegen die geheimnisvollen Mächte,
deren Brausen wir von draußen her vernehmen. Aus dem
tiefen und unerschütterlichen Vertrauen, das jede in der
Allheit ruhende Kreatur hegt, schöpfen wir den Glauben an
freundliche Vorsehungen, die den Kreis unseres Machtbezirkes
mit mildem Lichte erfüllt und die Meinung an eine Vorher^
bestimmung und Regelung des unbekannten Alls nach mensch^
lichem Gerechtigkeitsgefühl nährt. Das blinde Walten um
schuldig grausamer Naturmächte in und außer uns, die
augenscheinlich von anderen uns völlig unbekannten Gesetzen,
Ursachen und Zielen bestimmt sind und als Verhängnis
oder Tod eintreten, hat dieses Vertrauen, das die Art zu ihrer
Erhaltung vielleicht nötig hat, nicht ganz zu erschüttern
vermocht. Während der unheimliche Gast schon in unseren
Mauern weilte, hat die Erkenntnis, daß unser Leben das
Allerwichtigste und Maßgebendste im ganzen Weltall ist, eher
zugenommen als abgenommen und die selbstgenährte Flamme
unseres unbedingten Wissens leuchtet als das einzige Gestirn
in dem Weltbereich, wo alles andere dunkel und unbestimmt
ist. Aber nicht weniger wichtig ist die Erkenntnis, daß unser
Leben nichtig ist und daß die Naturmächte kein Interesse
an unseren Geschicken haben. Diese Erkenntnis ist notwendig,
sie drängt zu Wachsamkeit und zur Beschäftigung mit dem
Unerforschlichen, von dem wir alle abhängig sind. Jeder wie
immer Schaffende sieht sich alsbald vor das Rätsel unseres
Daseins gestellt und seine Aufgabe weist ihm die Rolle eines
Kämpfers zu, der nicht die Ruhe des Bürgers hinter den
gesicherten Dämmen genießt, sondern der auf den Wällen
steht und seinen Blick auf das geheimnisvolle Kreisen und
Fluten unbekannter Lebensmächte richtet. Alle Arbeit des
Dichters, Denkers oder Künstlers ist auf dieses große Um
bekannte gerichtet, das unserer Weltanschauung die rechte
Tiefe und Stärke gibt. Ja, man kann sagen, daß jede Leistung
um so bedeutsamer und wertvoller ist, je größer der Anteil
jenes Mysteriums daran ist. Dagegen steht fest, daß die
Werke, die nur alltägliche Tatsachen, platte Selbstverständ'
lichkeiten, keine neuen Werte in die Welt gesetzt haben,
als quantités négligeables zu betrachten sind. Die Unsterblich^
keit der schöpferischen Geister beruht im wesentlichen in
der Unsterblichkeit des ewigen Problems, für die in den ver^
schiedenen Zeiten und verschiedenartigen Individualitäten bloß
der Ausdruck wechselt oder die Formel. Kants „Ding an sich“
bildet den märchentiefen Hintergrund aller menschlichen Ur^
mythen und Legenden; es steht als fatalistische Schicksalsmacht
hinter den Dramen der griechischen Tragiker seit Äschylus
und erlebte im klassizistischen Frankreich seit Corneille als
„heroische Pflicht“ eine seltsame Nachblüte; die Mystiker des
Mittelalters verehrten es in christlicher Glaubensfurcht und in
den Dramen Maeterlincks ist es der fast ausschließliche Inhalt
der Handlung: die tödliche Angst vor dem Ungeheuerlichen,
das Eingreifen feindseliger Mächte, die unpersönlich und unfaß^
bar sind und gerade die zartesten, untätigsten Blüten am leiclv
testen befallen. Gerade in unserer Zeit der reifen und reichen
Erkenntnisse und Aufklärungen sind die Rätselfragen des
Daseins größer und deutlicher geworden; wer immer sich be^
müht, das Leben zu deuten, schreitet über die Wirklichkeit
hinaus und sucht die Wahrheit des Unwirklichen zu erweisen.
BONLODORI VON LAFCADIE HEARN.*
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U ber die Berge nach Tzuma, dem Lande des Kamiye,
des Götterzeitalters. Eine viertägige Korumafahrt mit
kräftigen Läufern vom Stillen Ozean bis zur Japanü
sehen See; denn wir haben die längste und wenigst befahrene
Route gewählt.
Der größte Teil dieser Reise führt durch Täler, Täler, die sich
immer zu höheren Tälern öffnen, während der Weg ansteigt —
Täler zwischen Bergen von Reisfeldern, deren Hänge sich in
eingefriedeten Terrassen aufbauen, die wie ungeheure grüne
Treppenstufen aussehen. über ihnen liegt der Schatten dunkler
Zederm und Fichtenwälder und über diesen bewaldeten
Gipfeln sieht man dunkelblaue ferne Hügel, überragt von
zackigen, nebelgrauen Silhouetten. Die Luft ist lind und
windstill und die Entfernungen sind von zarten Nebeln ver
schleiert. Und an diesem duftigsten aller blauen Himmel,
diesem japanischen Himmel, der mir immer höher erscheint
als irgend ein anderer Himmel, den ich je gesehen, schweben
Tag um Tag nur vereinzelte, durchsichtige, weiße, wallende
Gebilde herum, wie Geister von Wolken, die auf dem Winde
reiten. Aber manchmal, wenn der Weg emporsteigt, ver
schwinden die Reisfelder für eine Weile: Gerste-, Indigo-,
Roggen- und Baumwollfelder besäumen eine Strecke weit
den Weg, der dann wieder in Waldesschatten versinkt.
Das Allüberraschendste aber sind die Zedernwälder, die ab
und zu die Straße begrenzen. Niemals habe ich außerhalb
der Tropen eine Baumvegetation so dichter und kerzengerade
aufstrebender Stämme gesehen — jeder Stamm steht kahl und
aufrecht wie eine Säule. Diese Baumwand bietet das Schau
spiel einer bleichen Säulenmasse, die sich zu einer Wolke
dunklen Laubwerks emportürmt, von solcher Dichtheit, daß
man über sich nichts sehen kann als in Schatten verlorenes
Gezweig. Und die wenigen Lichtungen in der Palisade der
dunklen Stämme sind nachtschwarz wie das Dunkel in Dorés
Föhrenwäldern.
Man sieht keine großen Städte mehr; nur Dörfer mit stroh
gedeckten Häuschen schmiegen sich in die Falten der Hügel,
jedes mit seinem buddhistischen Tempel, dessen spitzes,
blaugraues Ziegeldach über die Strohdächer hinausragt und
seiner Miya (Shintoschrein), mit dem Torii davor, gleich
einem großen Ideogramm aus Stein oder Holz.
Aber noch überwiegt der Buddhismus; jeder Hügelgipfel hat
seine Tera und die Buddha- oder Bodhisattva-Statuen tauchen
am Wegrain mit der Regelmäßigkeit von Meilensteinen auf.
Oft ist eine Dorftera so groß, daß die sie umgebenden Häus
chen der Landbevölkerung wie kleine Nebengebäude aussehen;
und der Reisende begreift nicht, wie ein so kostspieliges
Gotteshaus von einer so dürftigen Gemeinde erhalten werden
kann. Und auf Schritt und Tritt machen sich die Zeichen
des milden Glaubens bemerkbar; seine Ideogramme und
Symbole sind auf den Felsenflächen eingemeißelt, seine
Bilder lächeln dich aus jeder schattigen Straßennische an, ja,
manchmal ist es, als ob die buddhistische Seele der Land
schaft selbst ihr Gepräge aufgedrückt hätte, dort, wo die
Hügel so sanft hinausschweben wie ein Gebet. Und wieder
andere haben gewölbte Kuppeln wie das Haupt Shakas und
das sie um wuchernde wellige Farnkraut gleicht dem Gekräusel
seiner Locken.
Aber nach und nach, indem die Tage verstreichen und wir
auf unserer Reise immer mehr in den höheren Westen ge
langen, werden die Teras immer seltener. Die buddhistischen
Tempel, an denen wir vorüberkommen, sind klein und ärm
lich und der Bilder am Wege werden immer weniger. Dafür
* Siehe Bücher, die man lesen soll, Seite 202.
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