eine Figur nach der anderen an, bespricht ihre inneren Zustände und den
äußeren Habitus im entscheidenden Momente, bis die ganze Composition
aufgebaut ist. Goethe in seiner Recension dieses Werkes bemerkt hierzu:
„Sähen wir wirklich einmal ein Bild, welches den angegebenen Anforde
rungen entspräche, so würden wir mit jenem Freunde ausrufen: ,War es
der Mühe werth, mit solchem Aufwande von Kunst ein unerfreulich Werk
zu machen’!” ©©0
© Man denke sich einmal einen Jüngling wie Rafael oder den jungen
Michel Angelo der Unterweisung solcher Pedanten ausgesetzt! Wie un
schuldig, natürlich und einfach traten sie und ihre Zeitgenossen in die
Kunst ein. Wie rüstig suchte damals jeder auf seinen eigenen Füßen
weiterzukommen, ohne darauf zu warten, ob etwa von Staatswegen ein
Vierspänner vorbeikäme, der ihn bequemer und rascher an’s Ziel brächte.
Jeder suchte sich seinen Weg und fand ihn. Die Kunst ist für jeden An
fänger ein wüstes Gebiet, durch das keine getretenen Wege führen, für
den allein, der sich aus eigener Kraft finden lernt, ist es geeignet; kennt
man es aber einmal, dann wird jeder Stein und jeder Baumstamm ein Weg
weiser, und der Künstler geht so sicher seine Straße, wie ein Vogel sicher
durch die Luft fliegt. ©0©
© Die Geschichte der Akademien, auf denen man die Kunst lehrte und
von denen gleich fertige Künstler ausgehen sollten, beweist, wie unrichtig
lange Jahre hindurch über Kunst gedacht wurde. Freilich konnten allerlei
technische Griffe, eine gewisse Leichtigkeit für das Arrangement, ver
schiedene Farbengeheimnisse und dergleichen den Schülern mitgegeben
werden, diese wurden zugleich aber in so feste Ansichten eingezwängt,
daß von Freiheit des Schaffens keine Rede mehr war. Man schlage ein
Künstlerlexikon auf und wird finden, daß auch in diesen Zeiten noch be
deutende selbstständige Künstler immer für sich unter den seltsamsten Um
ständen in die Höhe kamen, sich auf eigene Faust durchschlugen und
selten von den auf Akademien gebotenen Vortheilen profitirten. Die Ge
schichte manches berühmten Künstlers beginnt damit, daß er von irgend
einer Akademie als durchaus unfähig zurückgewiesen ward, in welche er
als Schüler einzutreten wünschte. Die wahre große Kunstentwicklung
weiß nichts von diesen Anstalten. Erst mit dem Verfall der Kunst ent-
50
DSTERR. MUSEUM
F. ANGEW. KUNST