Schwer zu erklären ist, warum Franz von
Retz sich im Defensorium gerade auf den
einzigen Gegenzeugen der damaligen Zeit,
Albertus Magnus, beruft. Lag ihm eine
verstümmelte Albert-Ausgabe vor? Die
Frage, welche der noch bestehenden Ab-
bildungen denen des Originals am ehesten
entsprechen würden, ist kaum mehr zu
entscheiden. Nach meiner Ansicht ent-
spräche die Abbildung im Blockbuch des
Walther von Tegemree und jene im Defen-
sorium aus der Druckerei des Hurus von
Saragomz am ehesten in ihrer Klarheit und
Einfachheit dem Stile der damaligen Zeit.
Auch wann und wo die ersten Abbildungen
der Baumgans auftauchten, wird sich schwer
entscheiden lassen. Die Annahme Heron-
Allens, mit der Abbildung der „Barliata"
und „Carbates" im „()rtus sanitatis"
(Mainz 1491) habe die Ikonographie der-
selben begonnen, beruht jedenfalls darauf,
daß dem englischen Forscher, dem fast
nichts über die Geschichte des Mythos
entging, die Abbildungen in den Defen-
sorien nicht bekannt gewesen waren.
Aeneas Sylvius Pirmlanlini, der spätere Papst
Pius 11., reiste im Jahr 1435 in geheimer
Mission zu König Jakob I. von Schottland
und versuchte bei dieser Gelgenheit, dem
Wunder der Baumgans nachzugehen. Er
schreibt in seiner „Geschichte Europas"
im 46. Kapitel, er habe seinerzeit gehört,
daß an den Ufern eines Flusses in Schott-
land ein Baum wachse, welcher enten-
förmige Früchte hervorbringe. Wenn diese
nahe der Reife seien, Helen die einen auf
die Erde, die anderen ins Wasser, wobei
die auf die Erde gefallenen vcrfaulten, die
ins Wasser gefallenen aber wieder auf-
tauchten, Federn bekämen und davon-
Högen. Wie er aber der Sache nachgegangen
sei, habe er erfahren müssen, daß die Wun-
der, je näher man ihnen komme, sich immer
weiter entfernten und die berühmten Bäume
sich nicht in Schottland, sondern auf den
Orkadischen Inseln befänden.
Auch im 16. Jahrhundert beschäftigte dieser
Mythos weiter die Gelehrtenwelt. Der
Schweizer Naturforscher Konrad Gessner
(s. o.) bringt in seiner Naturgeschichte der
Vögel eine Abbildung der Bernikelgans,
„so von den Teutschen gemeiniglich Baum-
gans genannt wird". Ein „kunstreicher
Maler und Vogler" hatte ihm diese Ab-
bildung aus Straßburg zugeschickt. Außer-
dem bringt er noch zwei Abbildungen von
Gänsen, „so die Schotten Clokis nennen".
Gessner ließ es aber bei der Zusendung
von Abbildungen der schottischen Gänse
durch verläßliche Maler nicht bewenden.
Es heißt in der durch Rudolf Heusslin ins
Hochdeutsch versetzten Ausgabe von 1600,
daß ein gewisser Octavian, ein Ire, den
sagenhaften Vogel gesehen habe:
„Er habe noch unzeytige junge dieser
vögel mit seinen augen gesehen und in den
henden gehabt." Falls Gessner auf ein oder
zwei Monate nach London kommen könnte,
würde er ihm solche zeigen. „ . . . man
darf also nicht glauben, daß das ein märlein
sey . . ."
So phantastisch und unglaubwürdig die
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Schilderungen über das Auffinden des
Jugendstadiums der Baumgans klingen, so cr-
scheint diese Täuschung völlig verständlich,
wenn man wie der Verfasser die von zahl-
reichen Bohrwürmern angenagten und mit
Entenmuscheln besetzten angeschwemmten
Schilfsplanken untersucht und sich in den
mittelalterlichen Geist versetzt. Die Illu-
sion, es könnte sich um teilweise befiederte
Entwicklungsstadien eines Vogels handeln,
ist leicht zu erwecken. Den Beobachtern
allerdings, die behaupteten, sie hätten auch
noch die Vögel davoniiiegcn gesehen,
dürfte wohl die Phantasie einen Streich
gespielt haben. Gessner zitiert dann noch
den schottischen Geschichtsschreiber Hector
Boefiu: (1465-1536), der berichtet, 1490 sei
an den Ufern der Festung Pitsligo ein
großer Baumstamm nngeschwemmt und
hierauf vor vielen Augenzeugen zersägt
worden und „man sah von stund an"
nicht nur Würmer, sondern auch gefiederte,
vogelartige Lebewesen. Hector Boetius
kommt schließlich zu dem Schluß, daß
diese Vögel sich nicht aus Baumfrüchten,
sondern durch Fäulnis im Meere ent-
wickelten, das ja schon Homer und Vergil
als Vater aller Dinge bezeichnet hatten.
Auch auf einem Schiffe „Christoffel", das
ganze drei Jahre vor den Hebriden vor
Anker gelegen sei, hätten sich ähnliche von
Würmern durchbohrte Blöcke vorgefunden,
etliche ungestalt, etliche noch nicht ganz
wie Vögel, einige aber bereits vollkommene
Vögel. So kommt es wohl, daß auch ernste
Wissenschaftler wie der geachtete Zoologe
und Begründer des Botanischen Gartens
in Bologna, Ulysses Aldrovandi (1522 bis
1605), sich von der Sache nicht lösen konnte.
In seinem dreibändigen Vogelbuch aus
dem Jahre 1603 bringt er sehr „über-
zeugende" Zeichnungen von der Ent-
wicklung der Baumgans, wobei der Zeich-
ner einfach die Muschelgebilde mit den
Rankenfüßen an einen Baum in der Nähe
eines Wassers hängte. In der letzten Aus-
gabe bringt er sogar eine genaue ana-
tomische Aufgliederung der Entenmuschel
und als letzte Figur eine ausgewachsene
Bernikelgans. Obwohl Aldrovandi alle für
und gegen die Sage existierenden Ab-
handlungen erwog, wie etwa Piccolomini
oder Albertus Magnus, schloß er sich end-
lieh der Mehrzahl der Irrenden an. Das,
obwohl erst 1595 auch der Holländer
Wilhelm Beim}: die Sage als Irrtum ent-
deckte, als er selbst die Rottgänse, ein
weiterer Name der Bernikelgans, in Grön-
land brüten sah und richtigerweise an-
nahm, die Sage aufgeklärt zu haben.
Die überaus zahlreichen Abhandlungen
über dieses Thema sind der beste Spiegel
dafür, wie sehr es einst die Wissenschaft
vom Mittelalter bis weit in die Neuzeit
hinein beschäftigt hat. Es würde zu weit
führen, alle Historiographen und Natur-
Wissenschaftler, die sich mit dieser Materie
beschäftigt haben, auch nur anzuführen.
Im 17. Jahrhundert führte der Jesuiten-
pater Caspar Xrboti in seiner „Physica
curiosa sive mirabilia naturae et artis"
(Würzburg 1667) gegen dreißig ihm aus
den Bibliotheken zugänglichen Autoren an,
von denen der größte Teil durch die falsche
Auffassung von der Natur der Entenmuschel
und die übertriebenen Augenzeugenbe-
richte angeblich verläßlicher Gewährs-
männer getäuscht worden war.
Auf die Ikonographie der Baumgans scheint
mir gerade das Defensorium (s. o.) an-
regend gewirkt zu haben, wie seinerzeit
der „Physiologus" den Anlaß zu zahlreichen
Illustrationen bot. Als im Jahre 1425 der
Priester und Mönch Christian Ueuperkger
aus Stams in Tirol als Stiftung seiner
Familie in Hall eine „kunsrreiche Tafel
zur Verteidigung der Jungfrauschaft Ma-
riae" zu malen anordnete, muß ihm schon
ein entsprechender Entwurfvorgelegen sein,
wenn auch die Abbildungen zur Zeit der
tatsächlichen Ausführung dem Zeitstil ent-
sprechend ausgeführt wurden. Im Katalog
der Wiener Ausstellung „Europäische
Kunst um 1400" wird auf die Urheberschaft
der Tafel durch den Maler Hans Masolt
hingewiesen. Die Baumgänse der Votiv-
tafel sind auf Goldgrund gemalt: Drei
Bäume stehen am Rande eines kleinen Ba-
ches, vier Gänse hängen vorne an den
Bäumen, von dreien weiter hinten sieht
man die Schwänze herabhängen. Im Wasser
sind keine Gänse abgebildet. Eine andere
Darstellung, auf der Schleißheimer-Tafel,
zeigt zwei Enten im Wasser, zwei stürzen
von den Bäumen. Das Fresko im Brixner
Kreuzgang stellt einen Baum auf einem
blauen, sternübersäten Grund dar, gemein-
sam mit der Kappadozischen Stute, die
vom Winde empfängt. Der Baum steht
zu Häupten am Rande eines Wassers, in
welchem drei Vögel schwimmen, die man
wohl als Gänse ansehen muß. „Drei bäume
mit Vögeln und Früchten" heißt es schlicht
im entsprechenden Katalog.
Von Interesse erscheint wohl, daß noch
1801 in London „the wonderful goosetree
or barnacletree, a tree, bearing geese"
ausgestellt war. Aber auch hier hat es sich
wohl um Entenmuscheln gehandelt.
Wenn die Diskussion über dieses „Wunder"
bis ins 18. Jahrhundert geführt wurde, so
ist das Problem der Baumgans heute schon
so sehr vergessen, daß vielfach nicht einmal
mehr Fachleute die Baumgans in den
Defensorien erkennen. Die Naturgeschichte
ist längst zu schwierigeren Problemen vor-
gestoßen, und in der Fastenvorschrift spielt
die Bernikelgans keine Rolle mehr. Auch
das „Wunder" hat sich in einen Irrtum
gewandelt.
So blicken wir auf die Baumgans als ein
Beispiel des menschlichen Versuches zurück,
die Welt zu deuten und zu verstehen, des
Versuches, der trotz Irrtum und Täuschung
den Menschen dennoch zum Erfolg der
Erkenntnis führt.
LITEILATURHINWEISE
1 Edward Hevan-Allen, „Bcrnacles in Nature and in Myth".
London 192a.
1 Georg Jakob, "Arabische Bericht: von Gtsandten an
manischen Fürstenhöfen des 9. und 10. Jahrhunderts".
gelrlin 1927.
1 „Die Bernikelgaiß, ein mittelalterlicher Mythos" in:
„Mschx. rui- Geschichte und Wissenschaft des Judentums",
xvln (1869) 82-93.