Ob und wieweit nun in komplexen Tatbeständen
eine Ganzheit gefunden wurde, läßt sich frühestens
sagen, wenn der Wohn- und Alterungswert der
Siedlung erfaßbar ist.
Daß aber der Bildhauer Karl Pranfl sie als eine
„Gesamtplastik" bezeichnete, brachte immerhin
zum Ausdruck, daß der Architekt durch die oben
angeführten Pressionen hindurch und trotz ihnen
ein Gestaltungsprinzip transparent machen konnte.
Es bestand für dieses Bauvorhaben darin, aus dem
riesigen Angebot von verschiedenartigsten Bau-
stoffen und industriell erzeugten Formen jene
auszuwählen, die einesteils einen minimalen Ma-
terialwechsel erforderten und die andernteils -
oder gerade deshalb - am geradlinigsten von den
Grundbaustoffen der Vergangenheit, Holz und
Stein, herkommen und bei kurzer Bauzeit und
hoher Alterungsbeständigkeit ein Maximum an
individueller Gestaltbarkeit gewähren, ohne daß
die Grenze der Ökonomie und des industriellen
und handwerklichen Könnens, zu dem unser
Zeitalter imstande ist, überschritten wird.
Dahinter aber steht die Auffassung, daß das
Fundament der Baustoffe unserer Epoche so viele
Möglichkeiten birgt, daß man noch immer „ad
fontes" gehen kann. Und wenn „unsere Umwelt
auf Schritt und Tritt beweist, daß wir das spontane
Verhältnis zur Form verloren haben und nur durch
das Erkennen der Gesetzmäßigkeiten eine Orien-
tierung zurückgewinnen können" (Lehmbruck), so
ist auch diese Siedlung eine Hilfe für die Orien-
tierung.
Es wurden Beton und das verwandte Eternit.
vergütetes Holz und Glas verwendet, die in Gehalt
und Qualität zueinander divergieren und in einem
Spannungsverhältnis stehen. Und wenn wir Lehm-
brucks Untersuchungen und Suche nach Wert-
maßstäben im Formenpluralismus folgen, so ent-
spricht das unserer Meinung nach dem Gleich-
gewicht, das das Auge durch eigene schöpferische
Leistung herstellen will, indem es Kontraste im
Sehbild sucht.
Aus Beton sind alle Trennwande der Häuser (da
diese Schottenkonstruktion sich als am raum-
sparendsten erwies), Parapete, Schornsteine, Zwi-
schendecken, Balkonbrüstungen, Gartentrennwän-
de, Pergolen, die Außenstiegen, Wegepiatten und
-pflaster, Stützmauern, Pfeiler und Beleuchtungs-
koroer. Aber immer wurde die Schalung und die
Körnung des Zuschlagstoffes so verwendet, daß
Kontraste und Spannungen innerhalb der ver-
gleichbaren Struktur erlebt werden können und
das Gleichgewicht in der Suche des Gemeinsamen
aus dem Ungleichen zu finden ist.
Mit weißen Glasal-Eternit-Schindeln, die unschwer
Maßtoleranzen aufnehmen können, sind alle vollen
Ausfachungselemente, mit weißen Glasal-Platten
alle Außentüren, Klappen und starren Jalousien
belegt, während lsolierverglasung in durchsichtiger
und durchscheinender Form für alle lichtdurch-
lässig gewünschten Flachen verwendet wurde.
Die Ausfachungselemente bestehen aus vergüteter,
rnit Naturholzanstrich versehener Föhre, die lnnen-
stiegen der Häuser aus Lärchenholzlamellen, die
Fußböden der Wohn-, Schlaf- und Arbeitsräume aus
Lärchenriemen, die Zwischenwände, Türen und
Einbauelemente aus naturbelassenen Holzpaneelen.
Mit dieser Siedlung und der sie umschließenden
genuinen Außengestaltung folgte der Architekt
seiner Baugesinnung, im Wohnbau unserer de-
mokratischen Gesellschaft die Gemeinsamkeit in
einer äußeren komplexen Einheit dominieren zu
lassen, aber in den addierten einzelnen Wohn-
bereichen ein unter diesen Voraussetzungen mög-
liches Maximum an individueller Entfaltung zu
gewährleisten. Ob diese Auffassung und von
wievielen Hausbesitzern sie geteilt oder nach-
empfunden werden kann, wird die nächste Phase s
die mehrjährige Benutzung s zeigen.
Am Ende der Planungs- und Bauphase steht ein
Schreiben der Wohnbaugenossenschaft vom 16. Mai
1969 an die Hauseigentümer: „Wie Sie wissen,
7 Rßlherihaussiedlurig Wien-Dobling, Autoabstellplatz mll
Vorgarten, das "Pferd" ist der aufgefundene Rest eines
früher auf der Parzelle gewachsenen Baumes 7 im Hinter-
grund links der lristallationsblock mit dem kinetischen Bild
von Kolorrian Novak
S Fleihenhaussiedlung Wien-Dobling, Blick von einem Wohn-
garien zur unteren Hauszeile