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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe IX (1894 / 10)

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dennoch schon um der Gründlichkeit willen den Ort aufsuchen zu sollen. 
Der Erfolg entsprach meinen Erwartungen. Im ganzen Dorfe übte nur 
Einer die Wirkerei aus, und dieser Eine war ein ißjähriger Knabe, der 
das Metier erst kürzlich von einem Verwandten in einem ganz anderen 
Dorfe erlernt hatte: von einer Tradition im Orte selbst konnte also keine 
Rede sein. Aber auch im Teppichschatze der Kirche fand sich kein Kilim, 
der nicht von der mir bereits wohlbekannten modernen Art gewesen 
wäre. Also einen altruthenischen Teppich barg die Kirche dieses uralten 
Wachtpostens gegen Osten nicht; und doch hatte ich es nicht zu bereuen, 
den Abstecher dahin gemacht zu haben. Ich fand nämlich dort Dasjenige, 
was ich in den europäischen Sammlungen bisher vergeblich gesucht hatte 
und das ich in Toki am allerwenigsten gesucht hätte: einen wirklichen 
Polenteppich, oder doch einen solchen, der es noch am ehesten sein 
könnte. 
Die Kirche von Toki ist den Katholiken und den Griechen gemein- 
sam. Die Kilims, die man mir zeigte, gehörten der ruthenischen (griechi- 
schen) Pfarre, und ich musste mit meiner Musterung derselben eilen, 
denn schon stand der katholische Pfarrer bereit, um eine Taufe zu voll- 
ziehen. Er hatte mein Interesse an waltenu Teppichen wahrgenommen, 
und so sehr die Zeit drängte, glaubte er doch, mir einen Teppich vor- 
legen zu sollen, der zu dem katholischen Antheile am Kirchenapparat 
gehörte, und der auch seines schadhaften Zustandes halber längst außer 
Gebrauch gesetzt worden war. Mit Erstaunen bemerkte ich an diesem 
etwa 3 : 2 Meter großen Teppich fremdartige oder wenigstens in dieser 
Umgebung höchst unerwartete Dinge: im lnnenfeld des Teppichs ein 
Füllhorn mit barock stilisirten Blumen, in der Bordüre eine ähnlich be- 
handelte Blumenranke, dazu Wappen, die mir vom Pfarrer als diejenigen 
der ehemaligen adeligen Stifter des Teppichs bezeichnet wurden. Die 
Prüfung der Textur ergab sofort das überraschende Resultat, dass ich 
' es mit einem Knüpfteppich zu thun hatte. Nur in einer Beziehung ließ 
die Untersuchung, so flüchtig sie auch unter Berücksichtigung der ob- 
erwähnten Umstände sein musste, kein sicheres Urtheil zu: nämlich hin- 
sichtlich der Färbung. Es war Ende October, und die Dämmerung war 
trotz der verhältnissmäßig frühen Stunde unversehens hereingebrochen. 
Das ärmliche Kerzenlicht, das der Kirchendiener herbrachte, reichte nicht 
aus, um die im Laufe der Zeit offenbar verblassten Farben genauer aus- 
nehmen zu können. Aber schon das Wenige, was ich trotzdem von der 
farbigen Erscheinung des Teppichs beobachten konnte, ergab sich als 
ganz und gar unorientalisch: gewisse bräunliche, gelbliche und grünliche 
Töne, ohne entschiedene Wirkung im Einzelnen und daher auch ohne 
den eigenthümlichen Zusammenklang orientalischen Farbennebeneinanders. 
Es war somit kein Zweifel: ein Knüpfteppichj also von der technischen 
Beschaffenheit des orientalischen, aber im Uebrigen völlig abendländischen 
Charakters, ein Erzeugniss der Barockkunst, ungefähr aus den zwei 
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