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vollendet. Er hat seine Gestalten nicht dem Leben entzogen; sie sind so
voll Lebenskraft und Lebensfülle, wie irgend andere. Aber er hat sie in
das ldeal erhoben, d. h. er hat sie jeder Zeitlichkeit und Oertlichkeit
entkleidet und hat sie zu den vollkommensten Typen dessen gemacht,
was sie sein und sagen sollen. So hat er auch der Kirche, nicht die
frömmsten, nicht die heiligsten, aber die göttlichsten Gestalten geschaffen.
Nicht das Gleiche kann man von Michelangelo sagen. Während
für Rafael die kirchlichen Gegenstände immer noch kirchliche, die hei-
ligen Geschichten heilige sind, ist wohl Michelangelo mit aller Kirchl
lichkeit fertig und die Kunst ganz allein sein Ziel. Und in dieser Kunst
wiederum ist es die Darstellung des Menschen, man möchte fast sagen,
des anatomischen Menschen, worin er jene weltliche Richtung, welche
die italienische Kunst seit Giotto eingeschlagen hat, zum Abschluss
bringt. Allerdings ist es bei Michelangelo nicht so einfach die Darstellung
des Menschen, sondern des Menschen erfüllt von höchster Kraft, von
tiefster Leidenschaft, ebenso von der Gewalt des Geistes wie des Körpers,
und darin liegt auch ein ideales Element. Aber kirchlich, christlich,
fromm oder heilig sind weder die Sybillen und Propheten noch Gott
Vater selbst auf der Decke der sistinischen Capelle, noch ist es Christus
mit allen Seligen auf dem Jüngsten Gericht. Während der Heiland wie
ein Jupiter tonans erscheint, der strafend seine Blitze schleudert, macht
die Fülle der nackten Gestalten auf diesem gewaltigen Bilde doch vor
allem andern den Eindruck, als wollte der Künstler einzig seine außer-
ordentliche Kenntniss der Menschengestalt und seine Stärke in der Dar,
stellung der mannigfachsten Bewegungen und der kühnsten Verkürzungen
zeigen. Wie immer man das Werk bewundere, der Eindruck ist und
bleibt ein weltlicher, kein kirchlicher.
Und wie hier Michelangelo ein rein und einzig künstlerisches Ziel
verfolgt, so ist es auch mit den Venetianern dieser Zeit, nur dass der
Weg, das Mittel anders ist. Wenn Tintoretto noch ganze Wände und
Plafonds mit seinen Bildern bedeckt, so denkt er wohl am wenigsten
daran, einen religiösen Eindruck zu machen. Die Aufgabe, die er sich
stellt, gehört rein der Kunst, und wie diejenige Michelangelds in der
Vollkommenheit der Zeichnung, in der Größe der menschlichen Gestalt
besteht, so diejenige Tintorettds in der malerischen und coloristischen
Wirkung, und er arbeitet hier mit den Contrasten -der Licht- und
Schattenmassen wie der Florentiner mit seinen gewaltigen Leibern.
Und so kam die Kirche seit dem Beginn des sechzehnten Jahr-
hunderts in dem Fortgange der Renaissance unleugbar immer mehr zu
Schaden, wenn auch noch einzelne Künstler, namentlich im Anfange,
wie z. B. Luini, die Tiefe der Empfindnng mit der Schönheit der. Ge-.
stalten zu vereinen trachteten. Die weltliche Kunst hatte sich nicht blos
ein neues und großes Gebiet erobert, sie herrschte auch im lnnernder
kirchlichen Kunst. Und dies wurde auch nicht viel anders, als in der