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lebender Wesen. Besonders sind die Geschichten des alten und neuen Testaments ver-
werthet, nie katholische Heiligenlegenden, was mit Sicherheit darauf schliessen lasst, dass
diese lKunst erst nach der Reformation im Anschluss an die Renaissance ihre grosste Blüthe
erreic te.
Eigenthümlich ist Magnussens Ansicht über die Ursachen des Rück ngs der
Schnitzerei. Er macht namlich darauf aufmerksam, dass diese Kunst in demsel en Masse
zurückgegangen sei, wie die plattdeutsche Sprache von der hochdeutschen verdrängt wor-
den sei. Allerdings ist es richtig, dass zu der Zeit, als das Niederdeutsche noch in
Kirche, Schule und Literatur herrschte, die Schnitzkunst blühte, und dass man ietzt die
Ausübung derselben nur noch auf dem Lande und bei den niederdeutschredenden, also
unteren Standen ündct. Aber müssen darum Beide nothwendig im ursächlichen Zusam-
menhang stehen? lch will und kann diese Ansicht nicht widerlegen. Für den Cultur-
historiker ist sie immerhin der Beachtung und nähern Begründung oder gänzlichen Wider-
legung würdig. Auf allen Gebieten des geistigen Lebens ist es eine der schwierigsten
Aufgaben, die Einwirkung der einzelnen Wissenschaften und Künste und ganzer Geistes-
richtungen auf einander nachzuweisen. Der Gelehrte wird diese Dinge nie mit Sicherheit
herausrechnen und beweisen kennen, wie der Physiker und Chemiker seine Naturgesetze,
sondern dem Verstandniss dieser feinsten Zusammenhänge stets nur ahnend nahe treten
können. Und in unseren besten Büchern werden wir häufig mit einigen schön klingenden
Worten abgespeist, die als tiefe Weisheit, wohl gar Wahrheit gelten sollen, wenn sich
der Verfasser auf dieses Gebiet begibt. Bekannt ist ja und vielfach geglaubt. wie sehr
der ewig heitere, tiefblaue Himmel von Hellas auf die geistige Klarheit und den Formen-
sinn des Griechenvolkes eingewirkt haben soll. Doch Hegel bemerkt ganz richtig dazu:
nl-Ieute wohnen unter diesem Himmel die Türken, aber sie sind Türken gebliebenn Sind
nicht seit dem 16. Jahrhundert allmalig viele andere Ereignisse eingetreten, die die Schnitz-
kunst übel beeinflussen musstcn? Die modernen Verkehrsverhältnisse und die technischen
Erfindungen wirkten meiner Meinung nach ebenso ungünstig auf diese handwerksmassige
Kunst, als auf das gesammte Kleinhandwerk. Der Handarbeiter wollte mehr und schnel-
ler verdienen, und so legte man sich in dieser raschen, gewinnhaschenden Zeit auf andere
Beschäftigungen, zumal, wie M. später mir richtig auszuführen scheint, der ausländische
Geschmack dem einheimischen hindernd gegenübertrat.
Aber diese Fähigkeit, rneint M., ist noch nicht verloren, wenn sie auch jetzt
schlummert; und ich mochte hinzufügen, sie wird auch durch den gänzlichen Untergang
der niederdeutschen Sprache - quod dii bene vertant - nicht zu Grunde gehen. Fast
auf jedem Dorfe gibt es einen oder mehrere sog. Dusendkünstler (Tausendkünstler)
oder Klüterer, die so zu sagen Alles machen, was nbthig ist, Wagen, Mühlen, Geigen,
Orgeln und Claviere. Und wie solche uaturwüchsigen Talente über-all auf den Dörfern
unserer Gegend vorhanden sind, so wuchs auch einst die Schnitzkunst daselbst gewisser-
rnassen wild empor. Und gewiss ist es eine vortreffliche Idee, diese schlummernden
Talente durch bessere Anschauung und Unterricht zu entwickeln.
Vielleicht tragen die folgenden Daten, die mir hie und da bei den Zunftstudien be-
gegnet sind, etwas zur Unterstützung von Magnussen's Ansicht bei. Es ist bekannt,
dass in den Kirchen Hamburgs und der Umgegend vielfach Schnitzereien vorhanden waren
und noch sind, ohne dass wir wissen, von wern dieselben gefertigt wurden. Würde es
ein eigenes Gewerbe für diese Kunst gegeben haben, das man regclmassig erlernt hatte,
so müsste es als ein Amt organisirt sein oder sich an ein anderes angeschlossen haben,
damit Meister, Knecht und Junge gewusst hatten, wonach sie sich zu richten hatten. im
Mittelalter schlummerte Kunst und Handwerk noch traulich beisammen in einer Knospe,
wie wir es auch bei der Malerei sehen. Die Malerei hat sich erst an und aus dem Hand-
werk entwickelt. So gab es auch in der grossen Weltstadt Paris schon im 13. Jahrhun-
dert zwei Schnitzerzünfte. Die eine Zunft arbeitete Cnicifixe, Messergrilfe und andere
Sachen aus Holz, Horn, Knochen, Elfenbein und anderen schnitzbaren Stoßen. Sie arbei-
teten besonders für die Kirchen und vornehme Herrschaften. Der Lehrling musste seine
Kunst sieben Jahre lernen. Die Zahl der Gesellen war unbeschränkt, aber sie mussten
beim Eintritt in die Arbeit schwören, dass sie die Kunst nach den Gewohnheiten und
Ordnungen des Handwerks bei einem Meister erlernt hätten. Es muss also auch in Frank-
reich solche naturalistische Talente gegeben haben, die man jedoch erbarmungslos als
Pfuscher ansah. Nachtarbeit war verboten, da das künstliche Licht für ihre Arbeiten nicht
genügte. Hornarbeiten mussten aus einem Stück sein. Crucifixe, deren Arme eingesetzt
wurden, sah man nicht gern und verbot sie sogar zeitweilig. Nur die Krone Christi durfte
aufgesetzt werden. Die zweite Schnitzerzunft betrieb zugleich das Bemalen und Vergolden
der Schnitzereien. Sie arbeitete in denselben Materialien als die erste, scheint aber auch
reliefartige Schnitzereien gemacht zu haben. Für das Vergolden wurde die stricte Vor-
schrift gegeben, dass das Gold nur auf Silber, dieses auf Zinn aufzutragen sei. Diese Cor-
poration ielt sich bis in die spätere Zeit, während die erstere einging.