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stellte Decorationswände anfragen, mit mehr phantastischen Ziermotiven
in leichteren, luftigen Umrissen;
das andere System führt den Wandumschluss des Zimmers bis zu
dem Deckungsgesims einheitlich durch, bedient sich jedoch - statt der
Säulen -- der schmächtigeren Candelaberstäbe, die leichter in die Höhe
hinanwachsen.
Dieser zweite Typus spricht den Begriff des Zimmers, des ge-
schlossenen lnterieurs mit einer gewissen rationellen Klarheit aus. Man
hätte sich wohl bei dieser Anordnung begnügen können; aber der Reiz
der perspectivischen Wirkungen hatte für den antiken Decorations-
geschmack etwas so Fesselndes, dass man sich immer wieder mit Vor-
liebe zu jenem ersten Typus zurückwandte. Man fuhr also fort, gleich-
sam zwei Decorationen hintereinander zu stellen, eine raumschließende
und eine raumöffnende; sie verhielten sich zu einander wie Wahrheit und
Dichtung in der decorativen Kunst. Die erstere hielt sich ihrer Be-
stimmung nach mehr an das Reale und Wahrscheinliche, die andere
schweifte mit ihren Concetti in's Abenteuerliche hinüber und ließ im
Hintergründe ihre Architekturmärchen, ihre Luftschlösser und Zauber-
hallen aufsteigen. Gegen diese Phantasiebildungen eifert mit nergelndem
Unwillen der nüchterne Vitruv, der ausschließlich nur Darstellungen aus
dem Bereich der wirklichen Dinge gestattete; die bekannte Stelle steht
in der Nachbarschaft der oben citirten lib. Vll., cap. V. 3. 4. Sicherlich
hat nicht minder die Casa Farnesina, welche wohl unter den Augen
Vitruvs (oder kurz vorher) decorirt wurde, keine Gnade vor seinem
Richterspruch gefunden.
Sehr bald erkannte man auch die große scenische Wirkung der seit-
lichen perspectivischen Durchblicke, die noch nicht in's Programm des
farnesinischen Hauses gehören, aber bereits im Haus des Germanicus
versuchsweise auftreten. Dort zu beiden Seiten des scheinbar vertretenden,
mittleren Säulenbaues des Tablinum sieht man in Straßen hinein, aber
durch Pforten, welche sich in der Wand hiefür öffnen. Dadurch war
dieser EHect in der decurativen Logik erklärt und vermittelt. ln der
pompeianischen Decorationspraxis bekümrnerte man sich aber in kürzester
Zeit nicht weiter um eine solche Vermittlung. Farbige Wandflächen mit
bildlicher Ausstattung, mit schwebenden Figuren in der Mitte etc. um-
stellen den Raum, und diese wechseln ganz unmotivirt mit perspectivischen
Durchbrechungen, in denen der fabulirende Pinsel seine Zauberspiele
treibt. Die überschlanken baulichen Motive, gleichsam aus der Verstei-
nerung herausgeschlüpft, strecken und dehnen sich ohne Hinderniss und
Widerstand; Säulenschäfte verwandeln sich in Schilfrohre oder Lampen-
ständer, kleine Rundtempelchen sind auf leichten Postamenten schwebend
emporgehoben. Diese Entfesselung einer allerdings liebenswürdigen deco-
rativen Willkür, die völlige Auslieferung der Bauformen an ein gaukelndes
Spiel musste zur Auflösung des Architekturstiles führen. Der reine Or-
Jnhrg. 188g. 7