sich dies gefallen lassen, wenn man nur weiß, was man unter zeichnender
Kunst versteht.
Es ist bekannt, dass die Griechen und die hervorragendsten Künstler
der Renaissance unter zeichnender Kunst den Inbegriff aller bildenden
Künste verstanden haben, die Sculptur und Architektur ebenso wie die
Malerei, weil die Zeichnung die gemeinsame Mutter aller bildenden Künste
ist. In diesem Sinne haben sich auch die größten Kunsttheoretiker, die
wir kennen, Aristoteles und Lionardu da Vinci, ausgesprochen. Auch alle
unsere lebenden Künstler wissen, dass das Fundament jeder Kunst und
Kunstbildung das Zeichnen ist. Wer das Zeichnen nicht versteht, ist kein
Künstler. Auch einen Autodidakten scheidet man dadurch von einem
Künstler; ersterer ist in den Fundamenten des Zeichnens unsicher, der
Künstler aber beherrscht dieselben vollständig. Man kann daher einen
Autodidakten ebenso wenig einen Künstler nennen, wie einen Mechaniker
oder Chemiker, der sich mit den Hilfsapparaten der Vervielfältigung
beschäftigt.
Wenn man mit dem Ausdrucke wzeichnende Kunstu im weiteren
Sinne jede bildende Kunst bezeichnen kann, so versteht man darunter
im engeren Sinne heutigen Tages den Kupferstich, die Radirung,
den Holzschnitt und die Lithographie mit ihren verschiedenen
Abzweigungen.
Die Grundlage aller dieser Künste ist die Zeichnung, und wir
schätzen in deren Ausübung die Künstler desto höher, je freier und je
selbstständiger sie zu zeichnen und ihre Gedanken auszudrücken wissen.
Diese zeichnenden Künste sind in 'unserer Zeit zu großer Verbreitung
gelangt, weil sie in der ausgedehnten Illustrationsliteratur ein praktisches
Feld für ihre Entfaltung gefunden haben. Dazu kommt, dass die photo-
mechanischen und chemo'- technischen Erfindungen sich vermehrt haben,
seitdem 1829 durch Daguerre im Vereine mit Niepce die Photographie
ins Leben gerufen wurde. Heurigen Tages stehen fast alle illustrativen
Künste unter dem Zauber dieser bahnbrechenden Eründung. Sie hat
nicht blos der ganzen Industrie, sondern auch der Kunst, der Wissenschaft
und den verschiedenen Kunstwissenschaften große Dienste erwiesen und
ist so populär geworden, dass wir uns heute ein Illustrationswerk ohne
sie kaum recht denken können.
Aber so mannigfaltig und lehrreich die anderen Leistungen aui dem
Gebiete der zeichnenden Künste und der Illustrationstechniken sein mögen,
so dürfen wir keinen Augenblick vergessen, dass seit der Erfindung der
Buchdruckerpresse die zeichnenden Künste, Holzschnitt, Kupferstich und
Radirung in verschiedenen Abzweigungen Leistungen aufzuweisen haben,
welche an künstlerischer Bedeutung Alles übertrelfen, was unsere Zeit zu
leisten vermochte. Jeder denkende Künstler, welcher sich irgend einem
Zweige der zeichnenden Künste widmet, ist daher genöthigt, jene Holz-
schnitte, Kupferstiche und Radirungen zu studiren, welche von den her-
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