DIE XXX. BlENNAlE IN VENEDIG
JORQ
LAMPE
Wenn man die Biennale von 1958
mit der von 1960 vergleicht, fühlt
man sich versucht, der letzteren die
Aktualität abzusprechen, weil sich
nach außen hin nichts Aufregendes
ereignet hat. Doch ruft sich der ge-
rechte Mensch auch gleich wieder
zur Ordnung, weil Sensationen weiß
Gott kein Maßstab für Qualität sind,
und schließlich nur diese einerVer-
anstaltung Berechtigung verleiht.
An Qualität aber fehlt es der Bien-
nale 1960 keineswegs. Es haben sich
nur einige Stürme gelegt, die vor
zwei Jahren ihren Effekt zu ma-
chen nicht versäumten. Auch hat
sich die diesjährige Biennalc von
vornherein und sehr zum Vorteil für
den, der sich ernsthaft mit der
Kunst unseres Jahrhunderts ausein-
andersetzt, auf eine respektable
Weise polarisiert, indem sie dem
natürlich weitaus größeren Ange-
bot an gegenwärtiger Kunst ein
paar Zentren an bereits historisch
gewordener moderner Kunst ent-
entgegenstellt, die zur Besinnung
und zu nachdenklichen Vergleichen
Anlaß geben.
Da ist vor allem eine ebenso an-
sehnliche wie gut gewählte Retro-
spektive für den italienischen „Fu-
turismus" (1909 bis 1914) aufgebaut,
der neben dem französischen Kubis-
mus und dem mitteleuropäischen
Expressionismus der wichtigste,
wenn auch nur sehr kurzlebige Bei-
trag zur „Grundsteinlegung" der
Kunst unseres Jahrhunderts war.
Denn während der Expressionismus
in seiner noch ganz von der opti-
schen Erfahrungswelt ausgehenden
Gestaltungsweise die seelischen Er-
lebniscnergien als die entscheiden-
den Formgeher mobilisierte und der
Kubismus unter anderem die Simul-
tangestalt für alle Ansichten eines
Gegenstandes und seines Charakters
in der Fläche zu realisieren trach-
tete, ging es dem Futurismus darum,
auch die zeitlichen Abläufe von Be-
wegungsvorgängen in den Phasen
ihres Nacheinanders simultan auf
ein und demselben Bilde aufzu-
lächern und sie zugleich als Einheit
darzustellen.
Es ist traurig genug, daß man der-
artige Dinge und Zusammenhänge,
die längst allen Mittelschülern von
den oberen Klassen an bekannt sein
sollten, noch erörtern muß. Aber
nachdem erst vor kurzem während
der Europa-Gespräche zum Thema
bildende Kunst sogar ein ausländi-
scher Akademie-Direktor unter di-
rekter Bezugnahme auf die Futuris-
mus-Ausstellung der Biennale nichts
anderes zu sagen wußte, als dall er
sie für ein schreckliches Zeichen des
Kunstverlalls, des Kunstverdcrbs
erklärte, weiß man überhaupt nicht
mehr, was man als bekannt, ge-
schweige als verstanden vorauszu-
setzen sich berechtigt wähnen darf.
ln Wahrheit jedenlalls ist die Gele-
genheit, die Retrospektive Boccionis
mit der „Wachsenden Stadt", dem
„Dynamismus eines Radlahrers"
und anderen Bewegungsbildern,
nicht zuletzt aber auch mit dem
„Portrait Frau Busoni", das 1.916 so-
gar schon etwas von den „Infor-
mels" vorwegnimmt, die Bilder von
Balla, darunter das „Merkur zieht
vor der Sonne vorbei" von 1914, die
Bilder des jungen Carlo Carra oder
die „Tanz"-Bilder Severinis im Zu-
sammenhang mit den etwa gleich-
zeitigen Bildern von Gris, Leger und
Braque, von Gleizes und Jacques
Villon, von Marc und Macke aus-
gestellt zu sehen, ein beträchtlicher
Gewinn. Man spürt den Einsatz, den
Ernst, die Gewissenhaltigkeit und
Tiefe, die bildnerische Sorgfalt, mit
denen hier von der Malerei aus ganz
neue Bereiche des Welterlebens er-
schlossen und Kräfte und Verhal-
tensweisen wie eben das Dynami-
sche und die Geschwindigkeit be-
wußt vergegcnwärtigt werden, die
damals, also vor dem Ersten Welt-
krieg, noch nicht einmal aktuell zu
nennen waren.
Ein paar Säle weiter stößt man auf
eine Gcdächtnisausstellung für den
deutschen „Dadaisten" Kurt Schwit-
ters, die erst recht Seltenheitswert
besitzt, weil wohl kaum je so leicht
wieder über 80 Collagen (Klebe-
und Montage-Bilder) dieses er-
staunlich „finderischen" Menschen
zusammenkommen werden. Wie
gerne wird doch immer wieder der
Dadaismus als kindische Frechheit
und „Kunstzerstörung" hingestellt,
bestenfalls als Blödelei mit einigem
Witz, und nicht einmal geahnt, wor-
um es wirklich ging.
Natürlich hatte der Erste Weltkrieg
den Glanz und faulen Zauber des
Kulturgeschwätzes vor ihm ange-
schlagen, sodaß der Name „Kunst"
selber in Verruf gekommen war.
Aber um wievicl ehrlicher und
gründlicher als die angeblichen
Kunst- und Kulturschützcr ist ge-
rade ein Schwitters daran gegangen,
dem Bildnerischen neue Grundlagen,
Aspekte, Materialien, Spannungen
und Räume zu eröffnen. Besonders
seine kleinen Collagen unter Glas,
die fast alle in der Zwischenkriegs-
zeit entstanden und sicher auch
durch ähnliche, aber kaum so kon-
sequente Collagen der französischen
Kubisten angeregt sind, beweisen
nicht nur die unscheinbarsten Ab-
fälle als bildncrisch bedeutsam an-
erkannt, sondern auch alle erreich-
baren Möglichkeiten der farbigen
und formalen Flächengliederung
aufgegriffen und systematisch durch-
experimentiert. Wem das überflüs-
sig oder gar „verrückt" erscheint,
sollte in Erwägung ziehen, daß das
gesamte schöpferische Erkenntnis-
streben der ersten 40 Jahre unseres
jahrhunderts auf die Eroberung der
Grundlagen jeglicher Existenz ge-
richtet war, sodaß sich hier nur im
Bildneriseh-Anschaulichen das voll-
zog, was auch in der Physik und
Chemie, in der Biologie und Sozio-
logie vor sich ging. Wiederum
schlimm genug, daß man solche
selbstverständlichen Parallelen über-
haupt erwähnen muß.
Bei den Deutschen führen eine Kol-
lektive und eine Retrospektive die
Rückblickreihe fort. Die erstere zeigt
den Expressionisten des „Brücke"-
Kreises Sehmidl-Rottluff mit einer
freilich nur durch die Bilder von
1906 bis etwa 1920 überzeugenden
Wcrkzusammenstellung, weil nur
sie etwas von der psychischen und
ins Bildnerische übersetzten Gela-
denheit des schöpferischen Men-
schen der damaligen Zeit erkennen
lassen, während später alles leer und
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