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Volltext: Alte und Moderne Kunst XIII (1968 / Heft 101)

Angelo Lipinsky 
DAS SCHATZKAM M ERBILD 
IN DER WALLFAHRTS- 
KIRCHE ZU MARIAZELL 
Die weit über die Grenzen Österreichs 
hinaus berühmte Wallfahrtskirche zu Ma- 
riazell in der Steiermark birgt in einer be- 
sonderen Kapelle ein Gnadenbild eigener 
Art. Während im Mittelschiff der Maria- 
zeller Basilika eine bedeutende romanische 
Holzplastik seit Jahrhunderten unüberseh- 
bare Pilgerscharen vorüberziehen sieht, 
findet auch das in der „Schatzkapell" ge- 
hütete kleine Gemälde der Muttergottes 
mit dem Kinde - eben das sogenannte 
„Schatzkammerbild" 4 seine frommen 
Beter. Es ist eine der kostbarsten Gaben 
an die Wallfahrtskirche und von König 
Ludwig dem Großen von Ungarn ge- 
stiftet, als er die Kirche neu erbauen ließ. 
LITERATUR 
Hans Pelschnig, Die Wnllfahrlxleirrlle Mnrin-z-u in Steiermark, 
"Minhcilungcn der Kaiser]. Königl. Cenrral-Commission 
zur Erforschung und Erhaltung der Bzudenkmalc" XIV. 
1969, s. 61-91. im Gnadenhild, s. sv-ss, niir der rur die 
dzmalige Zeit entschuldbarrn engerneinen Zuschrcibung 
"Schule des Giono". 
...l'n . . ., Über die nrrnriinelirne Bestimmung de: w. srrinre- 
Ienmnm-Munergnnesbildzs zu Maria-Zoll, „Mirlhrilungcn dcr 
K. K. Ccnlral-Ciwmmission usw." xiv. 11m9. s. LlV-LV. 
Beide ziximcn Arbeiten crwähncn an Türkcnschlachr an 
der Marirzn 136a. 
Zum Maler Andmz Vrmni aus sien e 
F. Mzson Pnkins. Andrea Vanni, "Thc Burlinglon Mapzine" 
v, 190151309425. 
Dcxsclbv. dassclbü. niuur-gnn d'une dcl Miuislcro di v. I." xv. 
1904. s. 141. 
c. dc Nicola. Andrea Varmi. nThieme-Beckcr. Allgemeines 
Künstlcrlcxikxxn" I, 19111.  464. 
F. Masun Purkins, A rryplir n, Andrm vnnni, .,Arr in Amcrica" 
1x. 1921.s.1a0-1as. 
n. van Made, An early rmd lalr umrk by Andrea Vanni, "An 
in Amcrica" 1x. 11222, s. 230 - 2:2. 
A.M. Ciaranfl. Amirm Vnnni, "Enciclopedia iniinnr-xxxiv, 
Rom: 19.17, s. 975 - 976 
Zum (Jaldsrhmied Piano .11 nnne nur siennr 
lsppolito Machetti, ornß Serie . ..La Diana" IV, Sicna 1929, 
.26: „a Napoli Lando a1 Pi ro e Pietro di Simon: che 
poi si reco in Ungheria" ferner die Jahreszahl 1330, ahne 
Quene und Begründung anzugeben. 
E. Hrrrvurh. sienn e ii prirnn Rinnxcimento Ungherzxi. sirenu- 
Budagesz ms. srwniinr, daß Pietro di Some ällS Siena 
zwisc cn ms und 1m ein neues großes Königssicgcl in- 
rerrigre und dafür wiederum eine busondcrc Ehrung crfuhr, 
Angela Lipinsky, Die Gnldnhmiedekimxt du Mittelnllzr: im 
Kunigreirh Neu 1:1. 11 Zur Zeit der Anjuu. ynDÜS Mümtrr" xxx. 
Münchcn196 ,in Druck. 
Derselbe. (Jnntrihuri per la storia delVarre nmfu nex Regnv 11a 
Nuyznli e Sizüia (n), Prerixazioni u [rvupasita de! „Rzliquiaria 
degli Sxruzzi" in Same Slefalio n cnpn, n 79m di Pirtrn di Sivnunz 
du Siend, "Nipoli Nnblisiimu" vi, 19 u, in Druck. 
2 
 
 
Dieses Marienbild ist bisher, Wenigstens 
soweit bekannt, noch nicht in seiner ge- 
schichtlichen Bedeutung richtig gewertet 
worden. In der einschlägigen Literatur 
über den Maden-Wallfahrtsort Mariazell 
findet man fast nichts über das „Schatz- 
kammerbild". Man begnügte sich anschei- 
nend mit der königlichen Herkunft des 
Gemäldes, seiner kostbaren Ausstattung, 
stellte sich jedoch nicht die Frage nach 
seiner Herkunft und den Umständen, 
durch welche es in den Besitz des Ungarn- 
königs gekommen warl. 
Die Goldschmiedekunst des Mittelalters im 
ehemaligen Königreich Neapel und Sizilien, 
mit deren Geschichte ich mich jahrelang 
beschäftigte, hat in der Zeit der Aniou 
eine unerhörte Hochblüte gezeitigt, deren 
erhaltene Werke freilich mühsam zusam- 
mengesucht werden müssen, nachdem kein 
Kunstinventar, keine ausführlicheren loka- 
len Beschreibungen, nur gelegentliche Hin- 
weise und veraltete Lokalliteratur verfüg- 
bar sind. Aber die Suche nach diesen Denk- 
mälern und eine Erkundung der geschicht- 
lichen Zusammenhänge 7 auch außerhalb 
des Hoheitsgebietes der einstigen Mon- 
archie, die bis 1918 auszudauern vermochte 
7 ließen unerwartete Wege finden, auf 
denen die mit Neapel zusammenhängenden 
Kunstwerke in die Ferne gewandert sind 1. 
Die aus den nachfolgenden historischen 
Darlegungen sich ergebenden Schlußfolge- 
rungen vorwegnehmend, sei gleich hier 
gesagt: Das Marienbild als solches ist ein 
Werk des Andrea Vanni da Siena: Der 
Belag des Bildes mit emaillierten silber- 
vergoldeten Platten sowie die kostbare 
Umrahmung mit den vielen heraldischen 
Zeichen muß als Werk des in Neapel täti- 
gen Goldschmiedes Pietro di Simone da 
Siena angesehen werden, der nach Ungarn 
ausgewandert war. Ludwig der Große ist 
anläßlich seiner beiden Strafexpeditionen 
gegen Neapel 1346 und 1352 - zur Rache 
und Sühne der Ermordung seines Bruders 
Andreas - in den Besitz des Gemäldes 
gelangt. Er ließ es kostbar verzieren, um 
es dann wohl 1370, bei Beginn des Neu- 
baues von Mariazell, hier niederzulegen. 
Es sollte dieses nicht das einzige italieni- 
sche Kunstwerk sein, das Ludwig der 
Große von Ungarn aus Neapel in die 
Fremde brachte. Der König unternahm 
auch eine Heiltumsfahrt nach Aachen, wo 
er 1374 am Münster die „Ungarische Ka- 
pelle" errichten ließ. Hier stiftete er drei 
kleine Gemälde, fast genauso dekoriert wie 
das hlariazeller „Schatzkammerbild", sowie 
viele Edelmetallarbeiten, von denen einige 
noch erhalten geblieben sind. Das ein- 
malige Leuchterpaar und die Reliquiarien 
gehören wiederum in die Werkstätte des 
Pietro di Simone da Siena und sind zu 
Unrecht völlig vergessen 3. 
Das Gemälde ist eine rechteckige Holz- 
tafel mit einem erhöhten Rand. Nach links 
gewendet hält die Gottesmutter das sie 
segnende Kind auf dem rechten Arm, 
bereit, es mit der linken Hand näher an sich 
zu drücken. Dabei blickt sie etwas schräg 
auf den Betrachter. Die Haltung der lin- 
ken Hand läßt noch eine andere, sinn- 
vollere Deutung zu: Zärtlich hat die 
Mutter das Kind an sich gehalten, aber 
die linke Hand zurückgezogen, als sie des 
nähertretenden Betcrs gewahr wurde. Sie 
ist bereit, den Blick auf die ganze Gestalt 
Christi: freizugeben. 
Während das Kind der Mutter offenbar 
den Segen zuflüstert - das mütterlich 
liebevolle Horchen auf die Stimme des 
Sohnes motiviert die Neigung des Haup- 
tes -, scheint sie bereit, das ihr Mitgeteilte 
weiterzugeben: die Gottesmutter wird so- 
mit die Mittlerin der Gnaden. -- 
Die überaus zarte Behandlung von Haupt 
und Händen der Mutter und des Kindes, 
aber auch eine unleugbare Manieriertheit 
in der Akzentuierung der strengen Stili- 
sierung weisen auf einen Meister der ab- 
klingenden Malerschule von Siena. Wenn 
auch nur noch wenige sichere Werke von 
ihm erhalten geblieben sind, so erscheint 
die Zuschreibung auch des Mariazeller 
„Schatzkammerbildcs" an Andrea Vanni 
ohne weiteres als annehmbar. Um so mehr, 
als dieser Künstler in seiner Heimat eine 
ganz bedeutende Rolle auch im politischen 
Leben seiner Zeit gespielt hat. 
Sind auch die Zusammenhänge der Bild- 
hauer- und Malerschulen von Siena mit 
Neapel längst geklärt und mehrfach dar- 
gestellt worden 4 jene der sienesischen 
Goldschmiede mit Neapel und später auch 
mit Ungarn, erhellen aus dem Vergleich 
mit Goldschnuedewerken, mehr aber noch 
mit den transluziden Emails sienesischer 
Meister und jener, die in Neapel und 
Sulmona arbeiteten. 
Was Andrea Vanni betrifft, so sollte dieser 
noch näher mit Neapel sich verbinden. 
Von seinem Leben weiß man nicht viel: 
sein Geburtsdatum ist unbekannt, wird 
aber in das dritte Jahrzehnt des XIV. Jahr- 
hunderts angesetzt. Er gehörte zur Ge- 
folgschaft der heiligen Katharina von 
Siena. Was ihn veranlaßt haben mag, sich 
in den Dienst seines Stadt-Staates zu 
stellen, weiß man nicht; jedenfalls muß er 
ein ungewöhnliches diplnmatisches Talent 
bewiesen haben, denn er wurde mit vielen 
Missionen betraut - was ihn natürlich in 
seiner künstlerischen Arbeit sehr behindert 
haben muß; es erklärt sich daraus, daß 
trotz seines verhältnismäßig langen Lebens 
nicht sehr viele Werke entstehen konnten.
	        
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