eines kleinen Segments am untersten Rande fast
vollständig auf dem oberen Blatt liegt, ist sein
Maßwerkmotiv - ein von sechs Dreipässen ge-
rahmter Vierpaß - für den Zeichner des er-
sten Blattes nicht mehr gesichert. Dasselbe gilt
von dem Maßwerk der beiden Blendfenster un-
mittelbar neben dem Turmfenster und den
Maßwerkblenden der Strebepfeiler.
Das Oktogon ist nur skizzenhaft konzipiert.
Die Fenster zeigen weder Maßwerk noch Ge-
wändeprofile, wogegen die oberen Wimperge
zwar auda ohne Maßwerk im Giebelfeld, aber
mit Krabben und stark betonten Kreuzblumen
gezeidmet sind. Zwischen den Wimpetgen stei-
gen Fialen auf, von denen die äußeren korrekt
in Überedtstellung gezeichnet sind. Strengge-
nommen müßten natürlidi auda die inneren
Fialen bei einer radialen Grundrißdisposition
eine leichte Überedtstellung zeigen, doch glaubte
der Zeichner dies unterdrücken zu können.
Noda kurioser sind die Eckbaldachine über den
Strebepfeilern ausgefallen. Über vier Wimperg-
gekrönten Maßwerkblenden erheben sich drei
kleine und in der Mitte eine große Fiale. Die
Gruppe über dem vorspringenden Strebepfeiler,
die in Vorderansicht gezeichnet ist, deckt sich
also in der Ausführung genau mit der in Sei-
tenansicht wiedergegebenen Krönung über den
nach Nord bzw. Süd vorspringenden Seiten-
streben.
Dies ist theoretisch natürlich dann möglich,
wenn die Streben im Grundriß quadratisch
sind, was in Straßburg nicht der Fall ist. Aber
auch sonst ist diese Lösung utopisch. Sie wäre
nur dann realisierbar, wenn sich die beiden Fia-
lenaufsätze Winkel an Winkel in einem Punkt
tangieren. In Wirklichkeit kann aber hier nur
eine Winkelfialengruppe mit einer dritten Eck-
fiale angenommen werden, die zwar hinter der
Fiale des vorspringenden Strebepfeilers liegt,
aber nach den Gesetzen der gotischen Tektonik
noch ein Geschoß höher aufsteigen müßte.
Über den Oktogonfenstern erhebt sich ein Py-
ramidenstumpf, der konstruktiv völlig unge-
sidnert ist und bei der vorgesehenen schwa-
chen Ausführung der Oktogonpfeiler sofort
eingestürzt wäre. Nicht einmal eine konstruk-
tive Sicherung durdn eine eiserne Ringveran-
kerung wie beim Freiburger Turm wäre hier
möglich gewesen, weil die Spitzbogen der Fen-
steröffnungen weit über den Pyramidenfuß hin-
aufreichen. Dasselbe Problem existiert natürlich
auch beim oberen kleineren Oktogon mit der
Abschlußpyramide, auch wenn hier die Spitzbo-
genöffnungen unter den Wimpergen nicht ein-
getragen sind. Diese obere Pyramide ist übri-
gens nur zu zwei Dritteln gezeichnet, da die
Spitze nicht mehr auf das Blatt ging.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß
das Oktogon des Risses B nid1t nur in vielen
Details skizzenhaft, ja fast stümperhaft ge-
zeichnet ist, sondern auch zeichentechnisdue und
vor allem konstruktive Mängel und Fehler auf-
weist, die einem so berühmten Zeidmer wie
dem „Bischofsmeister" („Lichtenberg-Meister")
nidit hätten unterlaufen dürfen.
Wenn audn schon manche Details des Unter-
baus konstruktiv problematisch sind, so ist doch
die untere Blatthälfte zeidientechnisdm so vir-
tuos, daß man kaum annehmen kann, daß
demselben Zeichner bei der Konzipierung der
oberen Teile solche Fehler unterlaufen wären.
16
DIE BESONDERE STELLUNG DES
WIENER PLANRISSES 289
IM OKTOGONGESCHOSS
Die Ausbildung des Oktogons unterscheidet sich
bei dem Wiener Riß 289 von dem Riß B grund-
sätzlich dadurch, daß der Zeichner des Wiener
Risses gerade sein Hauptaugenmerk auf das
Oktogon richtete, wo der Zeichner der oberen
Teile des Risses B versagt hat. Dieses Versagen
muß dem späteren Planbearbeiter des Risses B
in voller Deutlichkeit bewußt geworden sein,
weshalb er mit rührender Akribie und erstaun-
licher Phantasie diesen Mangel auszugleichen
versuchte. Bei diesem Versuch scheiterte aber
der Zeichner des Wiener Risses formal und
konstruktiv noch mehr als sein Vorgänger.
Der wid1tigste Unterschied zwisdaen Riß B
und dem Wiener Riß 289 ist die Betonung der
Eckstreben im Oktogongesdioß, die nur darauf
angelegt ist, den Kern für eine Wendelstiege zu
bilden. Wie der zentrale Kern dieser Wendel-
stiege allerdings auf dem Eckwinkel der beiden
Streben aufruht, bleibt ungeklärt.
Ein zeichented-inisch hochinteressantes Dilemma
ist die Darstellung der übereckstehenden Fen-
ster des Oktogons: Diese Fenster sind in Wirk-
lichkeit gleichgroß wie die orthogonal gezeich-
neten Fenster, ersdieinen aber natürlich in der
Projektion verkürzt. Doch bereitete es auch an-
deren Zeichnern gotischer Risse anscheinend
größte Schwierigkeiten, die Maßwerkuntertei-
lung der orthogonal gezeidineten Fenster in der
Übereckstellung analog zu verkürzen - ein
relativ einfaches Problem der darstellenden
Geometrie! Während spätere Zeichner sich nicht
ganz ungeschickt so behalfen, daß sie außen
mit derselben Maßwerkteilung in wahrer Größe
begannen und diese nach innen unterbradien,
da die Darstellung der wahren Größe in der
verkürzten Projektion nicht voll aufging -
ein sophistisch kluges geometrisches Verfahren
-, behalf sich der Zeichner des Wiener Risses
289 mit der geometrisdi absolut falschen Me-
thode, eine Vierteilung des Stabwerkes der or-
thogonalen Ansicht in der Übereckansidit als
Dreiteilung mit mittig sitzendem kleinerem
Fenster- und Wimpergmaßwerk aufscheinen zu
lassen.
Über diesem problematisdnen unteren Oktogon
folgt ein noch problematischeres Aditedtge-
schoß. Seine Verbindung mit dem darunterlie-
genden Oktogongeschoß - beim Straßburger
Riß B immerhin noch durch einen Pyramiden-
stumpf angedeutet - fehlt. Audi dieses obere
Oktogon wird von Eckwendelstiegen flankiert,
die aber unten konstruktiv kein Auflager ha-
ben. Sie ruhen auf dem konstruktiv völlig un-
gesicherten breiteren unteren Oktogon auf.
Besonders problematisch und konstruktiv völlig
unüberlegt erscheint auch die Überleitung der
unteren Oktogonspindeln in die nad1 innen zu-
rüdtgesetzten oberen Wendeltreppen. Diese er-
folgt auf der Zeichnung durch eine ansteigende
Brüdte, die konstruktiv und geometrisch mitten
durch den Wimperg des überedtstehenden un-
teren Oktogonfensters hätte führen müssen. Zei-
chentechnisch ist dies auf dem Wiener Riß nidit
voll präzisiert, konstruktiv und formal aber
absolut unmöglich realisierbar - ein Beweis,
daß der Zeichner des Wiener Risses ein großer
Anreger war, der sich aber über die ganze Trag-
weite seiner Ideen zeichentechnisch und kon-
struktiv nicht Klarheit zu schaffen vermochte.
Die Wendelstiegen des oberen Oktogons, des-
sen Fensterwerk diesmal richtig verkürzt wie-
dergegeben, während das Maßwerk nur noch
skizzenhaft angedeutet ist, enden oberhalb des
Helmansatzes in polygonalen Türmchen mit
eigenem Helmabschluß. Am Ende des oberen
Oktogons ist wieder eine die Wimperge über-
schneidende Brüstungsgalerie gezeichnet, die
auch auf die Wendeltreppentürme übergreift.
Den Absd1luß bildet eine ziemlich schwächlidi
aussehende Helmpyramide mit viel zu klein
gezeichneten Krabben und einer kuriosen
Kreuzblume, die - obwohl horizontal liegend
- einfach in die Bildebene hereingeklappt er-
sdieint und die konstruktiv niemals in Stein
hätte ausgeführt werden können.
Nach dieser Analyse besteht die besondere Stel-
lung des Wiener Risses 289 in der betonten
Ausbildung der vier Edtwendeltreppen vor den
überedt stehenden Seiten des Oktogons, deren
Grundrißprojektion der Zeichner sowohl beim
unteren wie beim oberen Treppenpaar in die
Ansicht hineinprojiziert hat. Hierin sprengt die-
ser sonst so hilflose Zeichner allerdings die da-
mals üblichen Darstellungsmethoden auch be-
rühmterer Zeichner der Epoche - vielleicht aus
Ängstlichkeit, man könne sonst vielleicht nicht
erkennen, daß hier Wendeltreppen vorliegen,
was beim unteren Treppenpaar auch gut mög-
lich wäre. Die ansteigenden Fenster der unte-
ren Spindel hat der Zeidiner nunmehr am obe-
ren Ende anzudeuten vermocht, wobei er noch
den Fehler machte, daß er diese Fensterab-
schlüsse nicht spiegelbildlich anordnete.
Der Zeichner des Wiener Risses 289 machte
übrigens einen noch viel schwerwiegenderen
Zeichenfehler, der beweist, daß er kein guter
Praktiker war und sich durch mangelndes Vor-
stellungsvermögen seine an sich interessante
Idee in der technischen Darstellung so erschwert
hat, daß sie irreale Züge annahm. Die Spindeln
an den vier Ecken des Oktogons sitzen nämlich
nidit auf den winkelförmig vor dem dritten
quadratischen Turmgeschoß gesetzten Streben
auf, sondern müßten auf den Dreieckszwickeln
stehen, die zwischen Viereck und Achteck an
den vier Ecken überbleiben. So eingerückt, hät-
ten die Wendelstiegen fast die beiden übereck
stehenden Oktogonfenster überdeckt, und der
Zeidaner hätte dann durch eine horizontale
Brücke oberhalb der Wimperge über den Okto-
gonfenstern in den oberen Oktogonkranz über-
wechseln können, womit er sich die völlig uto-
pischen steigenden Brücken hätte ersparen kön-
nen. Bei den Spindeln des Oktogons liegt übri-
gens derselbe Zeichenfehler vor. Der Übergang
von den unteren zu den oberen Spindeln neben
dem eingerückten kleineren Oktogon wäre aber
auch bei richtiger Darstellungsweise konstruk-
tiv sdiwierig - wenn nidit unmöglich - ge-
Der überleitende Pyramidenstumpl
(konstruktiv selbst ein Problem) eignet sich
keineswegs noch als Auflagefläche für hohe
Wendeltreppen.
Organisatorisch hätte man die beiden Spindeln
nur durch gerade ansteigende Treppen verbin-
den können. Da aber der Zeidmer des Wiener
Risses keine große Turmpyramide über dem
unteren Oktogon wagte, sondern sklavisch an
der Idee des Straßburger Risses B mit dem ein-
gerückten („laternenartigen") oberen Oktogon
WCSCH.