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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXIII (1978 / Heft 158)

Die Entwicklung des modernen Möbels verläuft par- 
allel zür Entwicklung der modernen Architektur und 
der modernen Technik. Die amerikanische Unab- 
hängigkeitserklärung von 1776 mit der Deklaration 
der Menschenrechte, die erstmalige Verwendung 
einer mit Wasserkraft angetriebenen Spinnma- 
schine in Nottingham (1775 von Sir Richard Ark- 
wrightin derersten amodernenw Fabrikerrichtet) und 
der Sturm auf die Bastille im Jahre 1789 stehen am 
Beginn einer grundlegenden Veränderung unserer 
Welt, die bis heute noch nicht zum Abschluß ge- 
kommen ist. Im zwanzigsten Jahrhundert ist der an- 
dauernde Prozeß des Suchens. des Veränderns, der 
Aktion und Reaktion gesellschaftlicher Umschich- 
tung durch die Auseinandersetzung zwischen 
Kommunismus und Kapitalismus. aber auch durch 
die Suche nach sozialer Gerechtigkeit in beiden Sy- 
stemen gekennzeichnet. Diese gesellschaftliche 
Wandlung, die heute durch das politische Mündig- 
werden der Dritten Welt erneut in Frage gestellt 
wird. bildet den Rahmen, in dem sich auch unser 
Bauen und Wohnen vollzieht. 
Möbel und Raumgestaltung können Aufstieg und 
Macht einer Klasse, einer Schicht oder eines Volkes 
auf gleiche Weise symbolisieren wie die Architektur 
einer Epoche. Im Grunde lassen sie sogar noch prä- 
zisere Schlüsse zu, da Veränderungen hier viel ra- 
scher und deutlicher zum Tragen kommen. Durch 
ihre unmittelbare Nähe zum Menschen charakteri- 
sieren Raum und Möbel seine Stellung und seine 
Beziehung zum Mitmenschen. Möbel sind Zeugnis 
seines öffentlichen Auftretens ebenso wie seiner 
persönlichen Vorstellungen: Ein Möbel von Andre 
CharlesBoulle mitseinen klaren Formen und pracht- 
vollen lntarsien steht für die absolutistische Macht- 
fülle Ludwigs XIV. ebenso wie der schlichte Bug- 
holzstuhl aus einer Fabrik von Michael Thonet für 
den beginnenden Massenkonsum. 
Klassizismus und Empire brachten, wenn auch im 
historischen Rückgriff, zu Beginn des neunzehnten 
Jahrhunderts die Kraft alter gesellschaftlicher Ord- 
nungen nochmals im Möbelbau zum Ausdruck. Die 
fließenden Gewänder der Damen auf den Bildern 
von Jacques Louis David und die der römischen An- 
tike entnommenen Motive der Möbel wollten Glei- 
ches darstellen: die Stärke des lmperators und die 
Suche nach klassischer Regelmäßigkeit und Ein- 
fachheit. Durch die glatten Flächen des dunklen 
Mahagonifurniers, erste Zeichen technischer Per- 
fektion der beginnenden arbeitsteiligen Fabrikation. 
erhielt das Möbel schon durch das bloße Volumen 
verstärkte Aussagekraft. 
In den Möbeln und Wohnformen des Biedermeier 
kann man eine Vorstufe der modernen Formgebung 
sehen. Aus der Reduzierung der Ornamente von 
Klassizismus und Empire und der Anpassung an die 
räumlichen Verhältnisse der Bürgerstube entstan- 
den. zeigte diese bürgerliche Wohnkultur noch ein- 
mal die Kraft einer selbständigen Entwicklung. Die 
organischen Formen der Sitzmöbel könnte man 
durchaus als Vorboten eines Funktionalismus be- 
zeichnen, der durch die Abkehr von vordergründi- 
ger Repräsentation möglich wurde. Bescheidene. 
helle und freundlicheZimmermitschlichten Möbeln 
strahlten Ruhe aus und schienen dieser vor allem 
mitteleuropäischen Strömung etwas Endgültiges zu 
verleihen. Die Ruhe war jedoch trügerisch: Hinter 
der politischen Ordnung Metternichs bahnten sich 
tiefgreifende Umwälzungen auf gesellschaftlichem 
und wirtschaftlichem Gebiet an. Die bürgerliche Ge- 
sellschaft war durch den Verlauf der Französischen 
Revolution zutiefst erschreckt und fühlte sich unter 
der Obhut ihrer Monarchen sicher. Man zog sich ins 
eigene Heim zurück, in dem Frau, Kinder und 
Freunde für jene Atmosphäre sorgten. die man 
heute als nbiedermeierlichii bezeichnet. 
im Land der frühen Industrialisierung. in England. 
hielt man zunächst an Wohnvorstellungen fest, die 
durch die drei großen englischen Möbelentwerfer 
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des achtzehnten Jahrhunderts- Thomas Chippen- 
dale, Thomas Sheraton und George Hepplewhite - 
geprägt worden waren. Im übrigen hieß das Motto 
"zurück zur Natur". hinaus in eine idyllische Land- 
schaft. das ebenso wie in Mitteleuropa durch die 
romantische Malerei unterstützt wurde. Man hielt 
sich in den Landhäusern der weiten grünen Graf- 
schaften auf. während im Mittelwesten die engen. 
schmutzigen Industrieviertel entstanden, die 
Schlote der ersten Fabriken rauchten und die 
Schiffe im Zeichen des Wirtschaftsliberalismus eine 
neue Freiheit der Meere nutzten, um Rohstoffe für 
die Maschinen heranzuschaften. Zurselben Zeit. als 
mit dem Ende der überkommenen Ordnung des 
Feudalismus die bisher gebundenen Arbeitskräfte 
frei wurden und sich in die Zentren der neuen Indu- 
strie ergossen. lebte die führende Schicht in einer 
gewollt historisierenden Umgebung. Die neue Gotik 
symbolisierte die Erinnerung an die glorreiche Ver- 
gangenheit des englischen Adels. die auch für die 
Fabrikanten Vorbild war. 
Während das frühe Viktorianische England in die 
 
1 Leopold Kupelwieser, Gesellschaftsspiel der Schuber- 
tianen in Atzenbrugg "Vertreibung aus dem Paradiese. 
1821. Aquarell. Historisches Museum der Stadt Wien. 
lnv.Nr. 18752. Schmucklcse und möglichst glatte For- 
men prägen den Stil des Biedermeier. dessen bequeme 
Möbel in hellen Räumen einen Hohepunkt bürgerlicher 
Wohnkultur darstellen. 
2 Maurizio Dallasta und Davide Mercatali, Sessel "Noma- 
de", 1975. Fünf Kissen werden mit Gurten zu einem Ses- 
sel zusammengeschnalll und können auch zu anderen 
Kombinationen verbunden werden. Die Kissen sind mit 
Baumwollstoff oder Segeltuch bezogen. Hergestellt von 
Doricni Formart. 
3 Englisches Flollbureau mit Büchervitrine, um 1790. Vic- 
toria and Albert Museum. London. Die Möbel dieser Zeit 
zeichnen sich durch äußerst zweckmäßige Gestaltung 
und zurückhaltenden Dekor aus. 
ländliche ldylle flüchtete, baute Leo von Klenze r 
1816 aus dem kleinbürgerlichen München he 
mitten in das Grün der Vororte die klassizistisc 
Häuser der Ludwigstraße. In der Nähe von Wiei 
einer Stunde mit dem Pferdewagen zu erreic 
entstand eine biedermeierlich-klassizistische 
Ien- und Bäderstadt: Josef Kornhäusel gab 
durch einen Brand zerstörten Baden ein nr 
Stadtbild. 
Daß die politische Führung in ganz Europa trct 
rer konservativen Grundeinstellung eine fortscl 
liche Wirtschaftsentwicklung förderte. mag an 
Erkenntnis liegen, daß wirtschaftliche Sichel 
und Prosperität beruhigend und stabilisierend 
ken. so holte zum Beispiel Staatskanzler Metter 
Michael Thonet nach Wien. Die Thonet-Stühle 
gebogenem Holz standen zuerst tatsächlich in 
Palästen der adeligen Mäzene und wurden erst 
terzum Volksmöbel. Die offiziellen Staatskünstl 
Architektur und Malerei brachten - über den H 
rismus hinaus - keinen Versuch, die neue 
schöpferisch zu erfassen. Und die Arbeiterst 
war zu sehr durch den Kampf um die bloße Exis 
gebunden, um schon stilbildende Kräfte zu eni 
kein. 
Der rasante technische Fortschritt, die Entwick 
neuer Fabrikationsmethoden und die Einfüh 
neuer Materalien muBten indessen auch von 
i-Kunstmöbelherstellernw zur Kenntnis genom 
werden. Schon Andre Charles Boulle, der g 
Ebenist Ludwigs XlV..kanrite das arbeitsteilige 
fahren, und auch die berühmtesten Möbelfii 
Frankreichs oder David Roentgens Unternehme 
Rheinland waren arbeitsteilig aufgebaut. Hierl 
wenn auch sehr langsam, der Übergang vom H 
werks- zum Industriebetrieb statt. 
Ebenso wuchs die Größe der Unternehmen. 
man begann. den Absatz mit modernen Vertri 
methoden zu organisieren. In Wien beschäftigt 
Möbelfirma Dannhauser um 1808 bereits 130 A 
ter, man konnte- etwas später- Möbel und G1 
(etwa Glaswaren) in seiner Fabrik und dem nahi 
legenen Verkaufsraum erwerben. 
Die i-Kunstschreinereiena sahen allerdings in 
noch ihre Aufgabe darin. die historisierei 
Fläume einer historisierenden Architektur mit 
beln verschiedenster Stilrichtungen zu füller 
waren handwerklich perfekte Möbel, die, ob 
Kopien vergangener Stile, von den Theoretikerr 
von den neu entstandenen Museen (Victoria an 
bert Museum in London. Museum für Kunst un 
dustrie in Wien) befürwortet wurden. 
In dieser Welt des Umbruchs und der Rückscha 
Stilepochen vergangener Zeiten und Gesellsch 
ordnungen wiesen - neben den Versuchen mit 
neuen Material Eisen - zwei Leistungen in dir 
kunft der industriellen Gesellschaft: die bereil 
achtzehnten Jahrhundert geschaffenen Möbe 
amerikanischen Sekte der Shaker und das l 
holzmöbel von Michael Thonet. Während die Sh 
- bereits hundert Jahre vor Adolf Loos- aus Üb 
gungen sittlich-religiöser Art Zierformen bei A 
tektur. Gerät und Möbeln ablehnten. wurde 
Bugholzmöbel auf Grund der verfahrenstei 
schen Entwicklung und durch seine Billigkeit 
frühen Modell eines Möbels der Massengesellsi 
und daruber hinaus zum Vorbild für das MObl 
sign bis heute. 
Die technische Entwicklung wirkte sich besor 
deutlich in Amerika aus. Zwarentstanden die ei 
Fabriken späterals im industriellen Mutterland 
land (die erste Baumwollspinnerei wurde 17! 
Pawtucket errichtet). doch setzte sich bald die l 
talistische Produktionsweise - in der zweiten l- 
des neunzehnten Jahrhunderts vor allem durct 
Versuch gekennzeichnet, die manuelle Tätigki 
allen Bereichen durch die billige Maschine zu e 
zen - mehr und mehr durch. Früher handwer 
hergestellte einfache Möbel wurden nun zume
	        
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