Brigitte Klesse
Bildwerke auf geschnittenen
Gläsern des 19. Jahrhunderts
1 Antonio Canova. wTheseus im Kampf gegen den Cen-
taurenv, 1804-1819, Marmorgruppe. Wien. Kunsthisto-
risches Museum.
2 Gorner, Henkelbecher mit einer Darstellung von "The-
seus im Kampf gegen den Centaurenu, nach dem Vor-
bild Abb 1 Prag. Kunstgewerbemuseurn
2a Ausscnnitt mit der Trieseusgruppe aus Abb. 2
3 Bertel Thorvaldsen, Modell des Standbildes von Johan-
nes Gutenberg, rasa. Kopenhagen. Thorvaldsen Mu-
SEUm.
4 Glaspokal, silbergelbgeatzt, mit "Gutenbergs Monu-
ment zu Mainzv von einem Glasschneider, der Gorner
nahesteht. Mannheim, Heiss-Museum.
4a Ausschnitt mit der Gutenberg-Darstellung aus Abb. 4
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Unter den mannigfaltigen Ausdrucksmitteln der bil-
denden Künste haben die des Glasschneiders und
die des Bildhauers auf den ersten Blick wenig mit-
einander gemein. Zwar tauchen bei den von der
Glasschnittkunst je benutzten Vorlagen oft figürli-
che Kompositionen bekannter Maler oder Graphi-
ker, aber so gut wie niemals Beispiele dreidimensio-
naler Bildwerke auf. Im Grunde begegnen sich hier
unvereinbare künstlerische Grundgesetzlichkeiten.
Daß es dennoch - freilich nur für den knappen Zeit-
raum einer Generation - zu solchen Berührungs-
punkten kam und welche Voraussetzungen dazu
führten, sei hier eingehender untersucht.
Jede gute. auf "Ftundum-Ansichtigkeitß angelegte
Freiplastik muß bei der fast silhouettenhaften, aus
technischen Gründen auch meist ganz unräumlich
koordinierten Übertragung auf die Oberfläche eines
Glases zuviel von der ihrem eigentlichen Wesen im-
manenten Qualität einbüßen. Besonders das feine
Stilempfinden des Barocks scheint sich solchen
Manipulationen widersetzt zu haben, so daß man in
der eigentlichen Blütezeit der Glasschnittkunst des
17. und 18. Jahrhunderts vergebens nach entspre-
chenden Vorwürfen Ausschau hält, die im Schnitt-
dekor kostbarer Gläser hatten verewigt worden sein
konnen.
Nicht von ungefähr ergab sich jedoch im Klassizis-
mus für kurze Zeit eine Lockerung dieser prinzipiel-
len Anschauungen. Zweifellos wurde diese Tendenz
durch einen Geschmackswandel in der Auffassung
der Bildhauerei selbst hervorgerufen. Es war die
zeichnerische, auf den schönlinigen Umriß einer
festgelegten Schauseite abzielende Komponente,
die mitunter sogar bei den hervorragendsten Vertre-
tern der klassizistischen Skulptur- bei Antonio Ca-
nova und Bertel Thorvaldsen sowie ihren Schülern -
die Oberhand gewann. Manche ihrer rühmlichsten
Schöpfungen besaßen tatsächlich nur von einer
Seite her vollste Wirksamkeit - ein Umstand. der die
Anwendbarkeit solcher Kompositionen in der Glas-
schnittkunst unterstützte und den originelleren un-
ter den Glasschneidern die Augen für diese neue
Möglichkeit öffnete.
Der Giasgraveur G'orner, dessen Schnittarbeiten für
lgnaz Palme 8. Comp. in Parchen auf der Prager
"Ausstellung der lndustrieerzeugnisse Böhmensu
1831 im nBericht der Beurtheilungs-Commissionr-
besonders lobend hervorgehoben wurde', gehorte
offenbar zu diesen begabten Glaskünstlern der er-
sten Generation des 19. Jahrhunderts, Freilich wis-
sen wir über seine künstlerische Persönlichkeit und
sein Leben sonst gar nichts. Auf mehreren seiner
Gläser hat er mit Antonio Canovas Marmorgruppe
des Theseus im Kampf gegen den Centauren eine
der damals populärsten Skulpturen wiedergege-
benz (Abb. 1). Eine Skizze in dem Kaikulationsbuch
von lgnaz Palme 8t Comp. aus dem Jahre 1835, die
einen glockenformigen Becher Gorners mit dem
Kampf von i-Herckuless und Centauer-r zeigta,
3
stimmt motivisch vdllig mit dem inschriftlich als
"Theseusr- bezeichneten Sujet aufeinem Henkelbe-
cher des Kunstgewerbemuseums in Prag' (Abb. 2)
uberein, Daher können wirdiesen wohl ohne Zweifel
alsein erhaltenes Werk seiner Hand ansprechen? Es
ist dem gesunden Selbstvertrauen Gorners in seine
eigene Leistungsfähigkeit zu verdanken, daß er sich
von der schwierigen Komposition des Canova-Vor-
bildes nicht abschrecken ließ. Der unter dem Wur-
gegriff des Helden rücklings zusarnmengesunkene
Centaur mit seinen körperlichen Verkürzungen und
Überschneidungen stellte für den Glasschneider
zwar eine nahezu unlosbare Aufgabe dar. doch ist
die Wahl gerade dieses Themas um so bezeichnen-
der. Schon allein die vom seitlichen Standpunkt
aufgenommene Fotografie der Originalgruppe Ca-
novas macht deutlich, daß wir es hier mit einem
Schulbeispiel solcher auf einseitige Ansichtigkeit
angelegten Skulptur zu tun haben. Außerdem - und
dieses war gleichermaßen ausschlaggebend - han-
delte es sich um ein schon wahrend des Schaffens-
prozesses im Blickpunkt internationaler Aufmerk-
samkeit stehendes Werk. Quatrernere de Quincy,
der mit Canova befreundete französische Archäo-
loge und Kunstschriftsteller, vertrat schon 1804, als
er das erste Modell dazu gesehen hatte, die Mei-
nung, daß dieses das Hauptwerk des Künstlers wer-