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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXVIII (1983 / Heft 186 und 187)

1876 werden in der Textilsammlung des Österreichi- 
schert Museums für Kunst und Industrie i wie das 
Österreichische Museum für angewandte Kunst da- 
mals hieß - vierzehn Stoffabschnitte "nachträglich in- 
ventarisiertri, Produkte und ein Geschenk der Firma Phi- 
lipp Haas und Söhne in Wienf Das Inventar erwähnt 
außerdem die Vorbilder der Gewebe: mittelalterliche 
Fragmente, die das Museum fast alle schon elf Jahre 
früher von dem Kanonikus Dr, Franz Bock aus Aachen 
gekauft hatte. Das Vorhandensein mittelalterlicher Ori- 
ginale und ihrer historistischen tiStilkopienri ist ein Bel- 
spiel für die praktische Umsetzung der Gründungsidee 
des Wiener Museums. Diese Sammlung sollte nämlich 
- und auf dem Gedanken basieren auch andere, ähn- 
lich strukturierte Museen - vor allem der heimischen 
Industrie als Vorbilderschatz dienen? 
Das Interesse an einer fundamentalen Reform des 
Kunsthandwerks in diesem Sinne und an Textilmustern 
speziell geht theoretisch bekanntlich von Gottfried 
Semper aus? 1851, bei der ersten Weltausstellung in 
London, wurde er mit Objekten konfrontiert, die von ei- 
nem Historismus geprägt waren, der vergangene Stile 
kritik- und auswahllos als ein Reservoir für das aktuelle 
Kunstschaffen benutzte. Auf dem Textiisektor überwog 
dassich seitden vierzigerJahrendesJahrhundertsaus- 
breitende, neobarocke, naturalistische Blumenmuster, 
das ohne Rücksicht auf den speziellen Materialcharak- 
ter oder auf den jeweiligen Gebrauchszusammenhang 
für alle möglichen Textilprodukte verwendet wurde. 
Semoerentwickelt aus dieser für ihn überaus negativen 
Erfahrung seine nmaterialistischek Kunsttheorie, nach 
der die künstlerische Form ein Produkt aus Zweck. Ma- 
terial und Herstellungstechnik eines Werkes ist. Dabei 
erklärt er die Textilien zum Ausgangspunkt jeglicher 
kunsthandwerklicherErneuerung,denn in ihnensiehter 
seine Ideen besonders einleuchtend exemplifiziert. Au- 
ßerdem verweisteraufdieVorbildhaftigkeitnurganzbe- 
stimmter historischer Stile und schafft damit ein festes 
Wertsystem. Orientalische, mittelalterliche und in der 
Renaissance entstandene Textilien stehen an erster 
Stelle in dieser Wertskala, da ihre Muster, nach Sem- 
pers Meinung, aus den für ihn so wichtigen materiellen 
Gegebenheiten heraus entwickelt werden sind und so 
als vstylisiertrr und als ihrem Material und ihrer Funktion 
adäquat bezeichnet werden können. 
Im deutschsprachigen Raum hat die praktische Reform 
textiler Muster im Semoerschen Sinne ihren Ausgangs- 
2 
punkt in der Paramentik: fiDie Neubelebung der alten 
Vorbilder, welche wir auf anderen Gebieten des Kunst- 
gewerbes dem Luxusbedürfnis zu verdanken haben, 
schulden wir im Gebiet der Kunstweberei einem ganz 
anderen Faktor: der Kirche. Die streng katholische 
Richtung. welche sich im Anschluß an die romantische 
Periode unseres Jahrhunderts den Traditionen des Mit- 
telalters mit Liebe zuwandte, suchte auf allen Gebieten 
die Einflüsse der letzten frivolen Jahrhunderte zu ban- 
nen und äußerlich wie innerlich die Formen der frühmit- 
telalterlichen Zeit, in welcher die Herrschaft der Kirche 
am unbedingtesten zur Geltung kam, wieder zu gewin- 
nen." So begründeteJulius Lessing 1874 die Motivation 
der Kirche in dieser Frage. Gegenüber den parallelen 
heogotischen Tendenzen in der Kirchenraumausstat- 
tung allerdings bezog er eine äußerst kritische 
Positionlessing nennt auch den lnitiatordieserkirchli- 
chen Stoffmusterreform und beschreibt dessen Vorge- 
hen überauspositiv: rln Deutschlandwares der bekann- 
te Dornkaplari Bock . , ., welcher in dieser Richtung eine 
eusgebreitete Thätigkeit entfaltete und unermüdlich 
war, mittelalterliche Musterzu sammeln. welche an Mu- 
seen und Sammlungen verkauft wurden und den Fabri- 
ken zu Gute kamenß 
Vor allem zwei Museen haben von der Bocldschen - 
uns heute in einem bedenklicheren Licht erscheinen- 
den - Sarnmeltatigkeit profitiert; das für das Wiener 
und andere Museen vorbildliche Victoria and Albert Mu- 
seum in London, das mehrere Ankäufe aus dieser Quel- 
le tätigte, den ersten 18606, und das Österreichische 
Museum, das 1865 ndie zweite, völlig gleiche Hälften, 
der Kollektion erwarb. Stoffmuster aus Bock'schem Be- 
sitz befinden sich aber auch in anderen Sammlungen, 
z. B. im Musee Historique des Tissus in Lyon 71875 er- 
worben - oder im Musee de Clunyf? 
Kanonikus Bock hat seine für die damalige Zeit sicher 
umfassende Kenntnis mittelalterlicher Gewebe und Pa- 
ramente geradezu propagandistisch verwendet und 
sich in Publikationen und Ausstellungen um die Verbrei- 
tung seiner Ideen gekümmertfErwareinerderersten, 
der die Reform der Stoffmuster konkret praktisch vor- 
wärts trieb und dafür die als vorbildlich betrachteten 
Textilien systematisch untersuchte und sammelte. Ge- 
lingen konnte dem Kanonikus dies auf Grund seiner ein- 
gehenden Kenntnisfastallergroßermitteleuropäischer 
Kirchen- und Klosterschätze. "Mit Sammlergeist und 
Kennerblick versehen, begünstigt auch wohl durch sei- 
1 Brokatell lanciert, Ph. Haas 5 Söhne, Wien, um 1873 
(Frontisplz Abb. 1,5. f) 
2 Seidenlampas lanciert und mit Hautcherigoldladen 
broschiert, Italien, letztes Viertel 14 Jh 
3 Brokatell lanciert, Ph. Haas 8 Söhne, Wien, urn 1873 

	        
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