Wer die Stichhältigkeit der gegen einenTheil von Les_sing's Ansichten
vorgebrachten Einwendungen anerkennt, wird vielleicht in Erwägung der
unbestrittenen Autorität, die dieser Forscher auf dem in Rede stehenden
Gebiete genießt, daran verzweifeln, dass wir überhaupt in absehbarer Zeit
zu einer wissenschaftlich gesicherteren Geschichte des orientalischen Tep-
pichs gelangen werden. Und doch wäre_eine solche Resignation meines
Erachtens nicht gerechtfertigt. Unsere Forschung, die sich doch haupt-
sächlich rnit dem Aeußerlichen, Augenfälligsten, Wandelbarsten, also mit
der ornamentalen Ausstattung der orientalischen Teppiche beschäftigen muss,
braucht blos auf ausschließlich historische Grundlagen gestellt zu werden,
um aus dem unfruchtbaren Kreise der Vermuthungsschlüsse, mit denen
Alles bewiesen werden kann, herauszukommen. Bisher standen dem zwei
vorgefasste Lehrmeinungen hindernd entgegen, die tief im Geistesleben
unserer Zeit wurzeln und daher fortdauernd fast uneingeschränkte Geltung
besitzen. Für's Erste die hauptsächlich in unserem Unterrichtssystem
begründete Zerreißung der gesammten Kunstgeschichte in eine antike
(bis 476 n. Chr.) und eine neuere; zwischen diesen beiden Welten
pflegt man sich eine unliberbrückbare Kluft der Verwilderung und Bar-
barei zu denken, auf welche im Mittelalter etwas ganz Neues, einerseits
durch die germanischen Völker, andererseits durch die Araber Begründetes
gefolgt wäre. Das zweite Hinderniss erblicke ich in der-wie ich glaube,
blos in Folge eines Missverständnisses - allzuweit auf vorgeschrittene Ver-
hältnisse ausgedehnten Theorie Gottfried Semper's von der Erzeugung
primitiver Kunstformen durch die technischen Proceduren; vom Gesichts-
punkte dieser Theorie betrachtet, wäre auch der orientalische Teppich,
der auf den ersten Anblick allerdings als etwas ganz Selbständiges, ohne-
gleichen in der Kunstgeschichte Dastehendes erscheint, aus seinen ur-
sprünglichen technischen Grenzen heraus und seit Anbeginn nur auf
seinen eigenen Spuren wandelnd zu dem geworden, was wir im conser-
vativen Orient noch heute täglich entstehen sehen. Also auch nach dieser
Seite gewissermaßen ein gewaltsames Herausreißen der Teppichornamentik
aus dem geschichtlichen Zusammenhange alles orientalischen Kunstschalfens.
Diese beiden,meinerUeberzeugung nach irrigen Grundanschauungen scheinen
mir Lessing's Ideen von der Geschichte der orientalischen Teppiche noch
allzu maßgebend beeinflusst zu haben. Die Heimat der Arabeske sucht er
noch immer in Arabien; da aber nirgends, soweit unsere Kenntniss reicht,
auch nur eine Spur von einer nennenswerthen national-arabischen Kunst
vor dem Aufkommen des Islam gefunden worden ist, so dürfte die bezüg-
liche Annahme Lessings mit der von ihm schon im Jahre 1877 geäußerten
aprioristischen Meinung zusammenhängen, dass die orientalische Teppich-
ornamentik im Wesentlichen im Zelte des Beduinen, in der Textilkunst
der arabischen Nomaden ihre Heimat habe, -- eine Anschauung, die
nicht minder geistreich, aber auch nicht minder unbewiesen ist als etwa
diejenige Chamissds, der in den durch hogenförmiges Astwerk geschlos-