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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift für Architektur, angewandte Kunst und alle modernen Kulturaufgaben, 4. Jahrgang 1908

DIESEM HEFT IST N R - 6 DER MITTEILUNGEN DER DEUTSCHEN GHRTENSTHDTGESELLSCHHFT BEIGESCHLOSSEN 
INHHLT DES HEFTES 18 
DIE SCHÖNHEIT DER GROSSEN STADT. Von AUGUST ENDELL 273 
DIE VERÄNDERTEN GRUNDLAGEN DES KUNSTGEWERBES 
SEIT DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION. Von HENRY VAN 
DE VELDE 273 
NEUE RUSSISCHE ARCHITEKTUR. Mit 11 Abbildungen. Be= 
fprocben von JOSEPH AUG. LUX 276 
EIN KUNSTGEWERBLICHES MEISTERSTÜCK. Mit 1 Abbildung. 
Befprocben von JOSEPH AUG. LUX 276 
MÜNCHNER AUSSTELLUNG 1908. Von JOSEPH AUG. LUX . .. 285 
DAS ÄSTHETISCHE PROBLEM IN DER PHOTOGRAPHIE. Von 
JOSEPH AUG. LUX 287 
PHOTOGRAPHISCHE HANDBÜCHER. Von JOSEPH AUG. LUX .. 287 
MITTEILUNGEN DES B. D. A.: 
Zum Tode Jofepb M. Olbrichs □ Bund Scbweizerifcber Arcbb 
tekten • B. S. A. □ Zum Wettbewerbswefen □ Neue Mitglieder 
□ Änderungen im Mitgliederverzeichnis □ Die Jahresverfamm- 
lung des Bundes Heimatfcbut) 288 
Als Beilage: GARTENSTADT. Mitteilung der Detitfchen Garten= 
ftadtgefellfcbaft. Nr. 6 41 - 48 
DIE SCHÖNHEIT DER GROSSEN STHDT* 
VON HUGUST ENDELL 
D enn das ift das Erftaunliche, daß die große Stadt trot} 
aller häßlichen Gebäude, trot) des Lärmes, trot} allem, 
was man an ihr tadeln kann, dem, der fehen will, ein 
Wunder ift an Schönheit und Poefie, ein Märchen, bunter, farbiger, 
vielgeftaltiger als irgendeines, das je ein Dichter erzählte, eine 
Heimat, eine Mutter, die täglich überreich verfchwenderifch ihre 
Kinder mit immer neuem Glück überfchüttet. Das mag paradox, 
mag übertrieben klingen. Aber wenn nicht Vorurteile blenden, 
wer fich hinzugeben verfteht, wer fich aufmerkfam und ein 
dringlich mit der Stadt befchäftigt, der wird gewahr, daß fie 
wirklich taufend Schönheiten, offen vor aller Augen und doch 
von fo wenigen gefehen, in ihren Straßen umfängt. □ 
Wir bewundern ftaunend die Städte der Vergangenheit, Babylon, 
Theben, Athen, Rom, Bagdad; fie liegen alle in Trümmern und 
keine noch fo gefchäftige Phantafie vermag fie wieder aufzu 
bauen; aber untere Städte leben, fie umgeben uns mit der 
ganzen Macht der Gegenwart, des Dafeins, des Heutefeins. Und 
gegen ihre bunte Unendlichkeit ift alle Überlieferung, find auch 
die koftbarften Trümmer tot, gefpenftig und arm. Untere Städte 
find uns fo unerfchöpflich, wie das Leben felbft, fie find uns 
Heimat, weil fie täglich in taufend Stimmen zu uns reden, die 
wir nie vergeffen können. Wie wir fie auch immer betrachten 
mögen, fie geben uns Freude, fie geben uns Kraft, geben den 
Boden, ohne den wir nicht leben könnten. □ 
* »Kultur und Kunft«, Verlag Strecker & Schröder, Stuttgart. Endlich 
einer, der die charakteriftifche Schönheit der Großftadt erfaßt. Ich werde 
nächftens mehr darüber fagen. l. 
DIE VERÄNDERTEN GRUNDLHGEN DES KUNST 
GEWERBES SEIT DER FRANZÖSISCHEN 
REVOLUTION 
VON HENRY VAN DE VELDE 
ie franzöfifche Revolution bezeichnet einen Wendepunkt, 
der die Vergangenheit fcharf von der Zukunft trennt. 
Zwei entgegengefetjte Kräfte, zwei widerftreitende Prin 
zipien prallten mit ratender Wucht aufeinander: die Ariftokratie 
und die Demokratie. Und überrafchend ift die Tatfache, daß 
allein der Stil auf der Wablftatt geblieben ift. Heute fteben fich 
die beiden Prinzipien Aug’ in Auge gegenüber. Der Stil war 
das eigentliche Opfer der fiegenden Partei, und durch diefen 
Sieg fcbien ihre Wut vollftändig gefüllt zu fein. □ 
Die Revolution vernichtete den Stil des 18. Jahrhunderts, 
weil die Macht und der Reichtum der führenden Klaffen die 
Demokratie beleidigten. Die Epoche, die aus der Revolution 
hervorging, trat infolgedeffen ohne jeden Stil ins Leben. Eine 
Epoche ohne Stil ift ein Schiff ohne Steuer, das den Winden 
preisgegeben ift. Wenn es trotjdem einen Hafen erreicht, fo ift 
es der Hafen des Zufalls, wo es böchftens den erlittenen See- 
fchaden reparieren kann. Der Empireftil und feine Ausläufer, 
wie der Chippendale- und Sheratonftil in England und der 
Biedermeierftil in Deutfchland waren folche Zufallshäfen. □ 
Das Erfcheinen Napoleons auf dem Schauplatj der Welt fällt 
in den Zeitpunkt, wo die Kunft vollkommen brach lag. Das 
Ziel, das Napoleon fich gefleckt hatte, bildete eine Verwandt- 
fcbaft zwifchen ihm und den Größten einer Epoche, die bis weit 
hinter das Mittelalter zurückreicht. Seine Rolle beftimmte auch 
feinen Gefchmack; der Imperator mußte den Empireftil einführen. 
Er wußte jeden Widerftand zu brechen, fich alle Energien zu 
eigen zu machen, und die Menfchheit nahm den Empireftil an» 
wie fie auch irgendeine Art fich zu kleiden oder fich einzu 
richten angenommen hätte. In dem Stil erkannte die Menfch 
heit den Kaifer ficherlich nicht felbft. Die Ereigniffe, die mit 
ratender Gefchwindigkeit aufeinander folgten, ließen ihr übrigens 
auch keine Zeit dazu. Wenn das Kaiferreich von Dauer gewefen 
wäre, fo hätte es die Individuen und die Charaktere gebildet, und 
die Beziehungen zwifchen den Menfchen und den Dingen hätten 
wieder hergeftellt werden können. Aber der Koloß ftürzte zu früh. 
Die Schönheit, die wieder aufgelebt war, brach mit ihm noch 
fchwerer zufammen als unter dem Beil der Revolution, und 
plötzlich fehen wir andere Leute und andere Dinge auf der Welt 
bühne. Die neue, aus der franzöfifchen Revolution hervor 
gegangene Welt hat mit allen Überlieferungen des Gefchmacks 
gebrochen, und die Willkür der neuen Herren, die fie fich nun 
wählte, mußte den Gefchmack zu den größten Extravaganzen 
treiben. Die Harmonie zwifchen den Menfchen und den Gegen- 
ftänden war zerftört; und weil die Beziehungen zwifchen den 
Menfchen und ihren Charakteren, ihren Gewohnheiten und 
Lebensarten nun einmal die Regeln des Stils find, fo haben wir, 
da fie fehlen, gleich nach den Ereigniffen der franzöfifchen 
Revolution eine Epoche ohne Stil. □ 
18. Heft • IV. Jahrg, 
273
	        
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