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angelsächsische Missionäre im frühen Mittelalter
nach dem Festlande gekommen ist, festzuhalten,
um gewisse hervorstechende Kunstformen der
zentraleuropäischen Schreibschulen zu verstehen.
Ein Vergleich der Illustrationen des eben erwähn-
ten irisch-angelsächsischen für die Salzburger
Kirche erworbenen Manuskriptes mit den autoch-
thonen Erzeugnissen der Salzburger Schule zeigt,
dass die eben erwähnten charakteristischen Kenn-
zeichen irisch-angelsächsischen Stils sich schon in
den frühesten, aus dem IX. Jahrhundert stammen-
den Manuskripten der Salzburger Schreibschule
wiederfinden. Aber nicht bloss in diesen. Der
irisch-angelsächsische Einfluss hat sich auf weiten
"Gebieten geltend gemacht. Eines der herrlichsten
Manuskripte, das uns aus jener Blütezeit der
Kalligraphie im IX. Jahrhundert erhalten ist, das
Bruchstück einer Abschrift des Sakramentars des
Papstes Gregors des Grossen, vielleicht aus dem
Kloster St. Vaast in Arras stammend (cod. 958),
bietet in seiner Umrahmung mit Flechtwerkfüllung
und stilisierten Schlangenmotiven eine Prachtprobe
jenes Stils, bei dem sich den fränkischen auch
angelsächsische Elemente beigesellten. Auf die
wundervolle Ausstattung der Handschrift kann
nicht nachdrücklich genug hingewiesen werden.
Die Reproduktion zeigt, wie die in grossen Dimen-
sionen gehaltenen Verbindungen der Kapitalbuch-
staben TE und VERE durchgeführt sind. Die fein empfundene Farben-
zusammenstellung muss allerdings an dem Originale studiert werden. Auch
die - freilich nicht in solcher Farbenpracht hergestellte H Initiale P (aus
cod. 123g), bei der die angedeuteten Merkmale des irisch-angelsächsischen
Stils sofort wieder erkannt werden können, kann als weiteres Beispiel dieses
Einflusses gelten.
Das allgemeine Urteil über die figurale Gestaltungskraft der deut-
schen Buchmalerei, wie sie in den Denkmälern vom IX. bis etwa XIII. Jahr-
hundert entgegentritt, fällt nicht eben günstig aus?" Die deutsche Buchmalerei
in dem bezeichneten Zeitraume liefert uns Zeugnisse, die vom kulturhisto-
rischen Standpunkte aus grösseren Wert besitzen als vom künstlerischen. Man
durchblättere die wertvollsten Stücke der Miniaturausstellung, die in der
deutschen Abteilung jene Epoche vertreten, und man wird dies Urteil
" „Eine Produktion von geringerem Durchschnittsmasse, die einfache Fortsetzung der im X. jahrhundert
herrschenden Kunst behauptet (in Deutschland] allein das Feld. Eine Wandlung des Stiles tritt zwar nicht ein,
wohl aber eine Vergröberung der Auffassung und Behandlung . . . . das Formgefühl ist roher, die Gewandung
dürftiger, die Ausführung mechanischer". A. Woltmann, Geschichte der Malerei I, 270 f.
Lateinisches Evangeliar (Cod. m24)