Josef Hermann Stiegler
TRANSM UTATION
Beispiele von Ergebnissen werden vorgestellt, deren
Ansatz in der Mitte zwischen Konstruktivismus im
klassischen Verständnis und seiner gegenwärtigen
Spätform gelegen ist, die etwas unscharf unter dem
Begriff „kybernetische Kunst" subsumiert wird.
Mitte bedeutet hier Synthese der Polaritäten Ge-
staltung und Konstruktion oder - in anderer
Nomenklatur s lntuition und Kalkulation. Die
Problemstellung - hier auf die Graphik bezogen -
ist zwar nicht neu, hat aber im Zusammenhang mit
der „Computerkunsfß eines Teilgebietes der kyber-
netischen Kunst, abermalige Aktualität erlangt.
Bereits im „Bauhausbuch Nr.9" finden wir in
Kandinskys Abhandlung „Punkt und Linie zu
Fläche" folgende Stelle: ,Die aus systematischer
Arbeit gewonnenen Fortschritte werden ein Ele-
mentarwörterbuch ins Leben rufen, das in weiterer
Entwicklung zu einer Grammatik führen wird. Sie
werden schließlich zu einer Kompositionslehre
führen, welche die Grenzen überschreitet und sie
auf ,Die Kunst" im ganzen bezieht." Zugleich merkt
Kandinsky an, daß die richtige Methode der An-
wendung in einer Verbindung von Berechnung und
lntuition bestehe. Setzen wir anstelle des Begriffes
ilementarwörterbuch" das Wort "Zeichenreper-
toire" und anstelle des Begriffes „Kompositions-
lehre" das Wort .,Manipulationsrepertoire", so er-
kennt man in der Formulierung Kandinskys nichts
weniger als die seherische Vorwegnahme informa-
tionsästhetischer Programmkunst; allerdings. wie
mir scheint, mit einem entscheidenden Vorbehalt
zugunsten Kandinskys: die moderne Schule der
rationalen Ästhetik zielt schon von ihrer Theorie
her auf einen technologisch-kalkulativen Puritanis-
mus. der sich vehement gegen das Mitspiel der
lntuition als einem irrationalen Faktum verwahrt.
Diese Tendenz wurzelt in der Überzeugung, daß der
schöpferische Prozeß restlos logisch formulierbar
und damit technisch simulierbar sei. Das haben
weder Kandinsky noch Klee geglaubt, und ein Ver-
gleich ihrer Werke mit den Resultaten der rationalen
Ästhetik unserer Zeit gibt ihnen recht. Die Einseitig-
keit der Avantgarde, welche mit Computern und
Oszillographen experimentiert. ist um so bedauer-
licher, als ihre Pioniere mit der Einführung des
Zufallsgenerators in die Kunst eine wirklich bedeu-
tende Entdeckung gemacht haben und nun daran
sind, deren mögliche Früchte durch ein dogmatisch
bedingtes Mißverständnis der Stellenwerte ad
absurdum zu führen. Worin dies Mißverständnis
liegt, kann vice versa aus einem Satz von Eberhard
Roters über Klee (.Konstruktive Tendenzen am
Bauhaus", ex ..Konstruktive Kunst", Katalog Bien-
nale 1969, Nürnberg) abgeleitet werden: „Klees
Lehre ist kein festgefügter Katechismus
eines theoretischen Systems, sondern
eine bewußt offengelassene Anleitung
zur Methodik bildnerischen Denkens."
Darin liegt die Erkenntnis der Notwendigkeit gleich-
gewichtiger Anteile rationaler und irrationaler Fak-
toren zur Entstehung eines Kunstwerkes.
lch habe mein (offenes) System graphischer Ge-
staltung TRANSMUTATION genannt, weil dieses
Wort nicht nur Umwandlung - im besonderen Fall
von Zahlen in Gestalt - bedeutet, sondern als ein
der Alchemie entlehnter Terminus die Transzendenz
einschließt.
Am Beginn meiner Arbeit stand das Erstaunen über
die Tatsache, daß die Dezimalstellenfolge der
Ludolfschen Zahl keinen Unterschied von einer
rein zufälligen Verteilung aufweist, obwohl diese
Zahl dem strengen Gesetz einer Unendlichen Reihe
entspringt. Getrieben von der Neugier, wie dieses
Unfaßbare aussieht, wenn es Gestalt annimmt,
suchte ich nach einer Methode, bestimmte Mengen
aufeinanderfolgender Dezimalstellen von Pi als
Graphik anschaulich zu machen. Ich ordnete zu
diesem Zweck den Ziffern des Dezimalsystems
Gerade gleicher Länge zu, die sich nur durch die
Winkel voneinander unterschieden, welche sie mit
einer (gedachten) Bezugsgeraden einschließen. Die
fortlaufende Verbindung solcher ..Pseudovektoren"
TRANSMUTATION 1. Klasse
1 Josef Hermann Slieglsl, Tnnzstudie, 1957. Slllllißhß
Graphische Sammlung Alberlina, Wian
2 Josaf Hermann Stieglar, „Konstruktion 2", Z-Seric, 1958
3 Josef Hermann Sriegler, „Konstruktion 1", Z-Söria, 1958
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