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Volltext: Alte und Moderne Kunst XVII (1972 / Heft 120)

In der Renaissance kam es zu einem Bündnis 
der Literaten mit den Künstlern, was seinen 
Grund unter anderem darin hatte, daß sie sich 
als Bundesgenossen bei der Arbeit an der Er- 
neuerung der Antike empfanden. Die Humani- 
sten-Literaten wurden die Herolde der Künstler. 
Nach dem anzüglichen Wart eines späteren 
Beobachters fanden sie sich „eher bereit, zehn 
Sonette als eine Kritik über ein Kunstwerk zu 
schreiben". 
Dogmen der Akademie 
Von der Handwerkerzunft allerdings wurden die 
Maler erst durch die Akademien endgültig ab- 
genabelt. Die früheste entstand gegen 1600 in 
Rom. Rund 50 Jahre später kam es zur Grün- 
dung der französischen Akademie. Im Jahre 
1664 stattete Colbert sie mit allerlei Vorrechten 
aus. Das war gut für die Künstler, wenn auch 
nicht durchwegs für die Kunst. Im Staate Lud- 
wigs XIV. durfte es nur eine Kunst geben. Der 
Akademie oblag es, diese Kunst zu vertreten, 
sie zu hüten und ihre reine Lehre festzustellen. 
Die akademische Doktrin wurde auf den Kon- 
ferenzen der Akademie ausgearbeitet. Ihre Ge- 
bote lauteten etwa: l. Die höchste Aufgabe des 
Schaffens eines Malers sei die Nachahmung für 
vorbildlich erklärter Muster. 2. Die Antike sei 
als der ein für allemal gültige Schönheitskanan 
anzuerkennen, nach dem die Naturform korri- 
giert werden müsse. 3. Das aus dem italieni- 
schen decoro entwickelte System von Biensean- 
cen und Convenencen sei zu respektieren, mit 
dem die Rangordnung und Würdenordnung, ia 
die Etikette eines absolutistischen Königshofes 
auf die Kunst übertragen wurde. Die höchstge- 
stellten Personen waren am nobelsten zu schil- 
dern, sie hatten das beste Lidwt und den vor- 
nehmsten Platz zu beanspruchen und es war 
dafür zu sorgen, daß im Bilde alles nach den 
Geboten der höfischen Schicklichkeit zuging. 4. 
Vorbildliche Künstler seien Raffael und Poussin, 
die echten Dolmetscher und berufenen Hüter 
der Antike. 5. Die Farbe sei von geringer Be- 
deutung für die Malerei, man habe sich an die 
Zeichnung zu halten. Tizian sei mit Raffael nicht 
zu vergleichen, weil er dem Glanz der Farbe 
zuliebe die Wahrheit preisgegeben habe. 
Befreiung durch die Kritiker 
Aus solcherlei Anweisungen und sehr zweifel- 
haften kunsttheoretischen Annahmen wurde Dak- 
trin, ein Beispiel ienes starren Regelwerks, wel- 
ches der Tod ieder echten Kunstübung ist. Eine 
der großen Leistungen der Kunstkritik im spä- 
ten I7. Jahrhundert aber war es, daß sie das 
Bollwerk zerbrach, das Maler, nicht Theoretiker, 
nicht Kritiker, errichtet hatten. Der Kunstschrift- 
steller Roger de Piles wandte sich gegen die 
Anmaßungen der Akademie mit den Worten: 
„Es ist vernünftig, alles zu schätzen, was schön 
ist." Er trat für Rubens und van Dyck, für Tizian, 
Veronese und Tintaretto ein. Insbesondere ver- 
focht der Schriftsteller dabei das Recht des von 
den Regeln unbeeinflußten gesunden Menschen- 
verstandes. 
Gegen die Berufung auf das Publikumsurteil 
konnten schließlich auch die Akademiker nicht 
an, denn das gebildete Publikum war ia ihr 
Käufer und ihre Existenzgrundlage, wenn man 
von den Aufträgen absah, die sie durch den 
Staat erhielten und die damals immer weniger 
wurden. Der Einfluß des Publikums und seiner 
Sprecher, nämlich der Kritiker, wurde um so be- 
deutender, ie mehr ein regelmäßiges Ausstel- 
lungswesen und Zeitungs- und Zeitschriftenwe- 
sen sich durchsetzte. Dies ist im I8. Jahrhundert 
geschehen. Ab 1759 schrieb Denis Diderot seine 
berühmten Aufsätze über Kunst. Er schlug die 
RR 
Schlacht gegen den inneren Kreis des Liebhaber- 
und Sammlerpublikums, das selber Engstirnig- 
keit zu entwickeln begann. Von nun an traten 
Kritiker nicht mehr als die Sprecher der Publi- 
kumsmeinung auf, sondern als selbständige, auf 
eigene Faust urteilende Wesen. An allen großen 
Wendungen in der bildenden Kunst seit ienem 
Kampf gegen die Akademie und seit Diderot 
waren Kritiker im modernen Sinn wesentlich 
mitbeteiligt. 
Die wahre Geschichte der Kunstkritik 
Es mag eingewendet werden, daß, wenn schon 
Bereitschaft bestehe, die Existenz von bedeuten- 
den Kritikern anzuerkennen, so doch auch die 
erkleckliche Anzahl mittelmäßiger, miserabler 
und reaktianärer Kunstkritiker zugegeben wer- 
den müsse, die eine Menge Dummheit geschrie- 
ben und Unheil angerichtet hätten. Dagegen 
Iäßt sich fürs erste dies vorbringen: Sowenig 
die wahre Geschichte der Malerei als eine Ge- 
schichte der mittelmäßigen, miserablen und reak- 
tionären Maler geschrieben werden kann, deren 
es naturgemäß ia ebenfalls eine Menge gibt, 
sowenig ist die Geschichte der Kunstkritik als eine 
Geschichte der schlechten Kritiker zu schreiben. 
Der Künstler ist werkgebunden 
Wenn man von den Vorurteilen absieht, die aus 
dem irrationalistischen modernen Geniekult er- 
fließen, so hört man auch von vernünftigen Leu- 
ten nicht selten die Meinung, daß über Kunst 
am besten die Künstler rechten würden. Von 
Joshua Reynalds hingegen stammen die resignie- 
renden Worte: „Früher glaubte ich, die besten 
Beurteiler der Malerei seien die Maler selbst, 
aber ietzt weiß ich, daß dem nicht so ist." 
Der Maler ist ia vor allem gebunden an das 
eigene Werk! 
Wissen wir denn nicht um die grotesken Fehl- 
urteile, die sogar geniale Künstler über andere 
geniale Künstler füllten? Michelangelo und Leo- 
nardo waren nicht nur Rivalen, auch im Inner- 
sten verstanden sie einander nicht. Händel wollte 
von Bach nichts wissen, und über Gluck bemerkte 
er: „Selbst mein Schuhputzer schreibt einen bes- 
seren Kontrapunkt." Goethe verdonnerte Kleist 
und E. T. A. Hoffmann, auch schätzte er Jean 
Paul und Hölderlin nicht. Klopstock bezeichnete 
Goethes „lphigenie" als eine steife Nachah- 
mung der Griechen. Schiller hielt Haydns „Schöp- 
fung" für einen charakterlasen Mischmasch. Grill- 
parzer lehnte Novalis radikal ab; Carl Maria 
von Webers „Euryanthe" wurde von Grill- 
parzer „geradezu polizeiwidrig" genannt. Lenau 
fand in Schubert „zu viel Dissonanzen", Hugo 
Wolf wütete wie ein Berserker gegen Brahms, 
auf den auch Wagner nicht gut zu sprechen war. 
Zola hieß Gottfried Keller „einen ganz gemei- 
nen Kerl". Für Tolstoi war Shakespeare ein 
Schmierenpoet, für Gutzkow Wagner „ein musi- 
kalischer Vertreter des Bösen". Cezanne behan- 
delte van Goghs Bilder mit einem Fußtritt. Van 
Gagh bewunderte Meissonier, einen der Haupt- 
vertreter der Salanmalerei, und haßte lngres. 
Degas brachte van Gagh zur Verzweiflung. In 
Cezanne sah van Gagh nur einen Aufschneider, 
und Kokoschka nennt Picasso heute noch einen 
Scharlatan. Van den Urteilen iüngerer Künstler 
der einen Richtung über die Künstler anderer 
Richtungen muß hier wohl nicht gesondert be- 
richtet werden. 
Primär und sekundär 
Der Künstler kann irren, der Kritiker kann 
ebenfalls irren, aber Kunst ist das Primäre, Kri- 
tik das Sekundäre, werden die Kritiker der 
Kunstkritik einwenden. In Lessings „Entwürfen 
und Fragmenten zu Laokoon" hingegen heißt es: 
„Wir sind darin einig, daß die Kritik ein: 
senschaft ist, die alle Kultur verdienet; g 
daß sie dem Genie auch zu gar nichts 
sollte." Dabei genoß Lessing immerhin de 
teil, zugleich Künstler und Kritiker zu sei 
tik war ihm eine Sache für sich. Die Fragt 
dem Vorrang hat er erst gar nicht gestellt. 
Für den, der sich dem großen Manne ansct 
möchte, wäre der Kritiker dann falgericht 
es mit der größten Deutlichkeit zu verrr 
so sekundär zur Kunst wie der Zoolog 
Maus oder zum Elefanten, wie der Bot 
zum Gras und zur Blume, wie der His 
zum Politiker, wie der Soziologe zur l 
schaft, wie der Wissenschaftler zum Gege 
seiner Wissenschaft überhaupt. 
Zur Definition der Kunstkritik 
Kunstkritik hat eine Fülle von Funktione 
wenig sie allein Werbung, Erläuterung, f 
erstattung oder Polemik ist, ist sie da: 
doch auch. Dresdner nennt sie „dieienigi 
ständige, literarische Gattung, welche die 
suchung, Wertung und Beeinflussung de 
genössischen Kunst zum Gegenstand hat". 
kritik untersucht und wertet. Und nicht 
als Kunsttheorie, von Plato, Aristoteles ur 
leau bis Winckelmann, Lessing und Brett 
sie zu wiederholten Malen sehr weser 
Einfluß auf den Fortgang der Kunst genc 
Das, worin ich selber die Hauptaufgal 
Kunstkritik sehe; die Feststellung der W 
über Kunst, hat die Kunstkritik im engere 
mit den Disziplinen der Kunstwissenschc 
Kunsttheorie, der Kunstgeschichte gemei 
muß der Kritiker viel rascher reagiere 
wirkt er viel unmittelbarer auf das vor 
hende Geschehen ein. Nichts ist schwierig 
die Wahrheit gerade in den Dingen de: 
zu finden. Daher ist Kunstkritik oft auch 4 
Suche nach Kriterien für die Bewertui 
Kunst, und freilich tappt sie nicht sel 
dunkeln. Das Verlangen nach verläßlicher 
thoden wurde gerade in der neueren Dis 
wieder laut. 
Kunstkritik ist Fleiß und Bemühung. Der 
kritiker beschäftigt sich, wenn er rich 
Platz ist, in der Regel mehr und intensi 
Kunst als sein Publikum. Er beschäfti 
anders mit ihr als der Künstler, der ia n 
seiner eigenen Sache als an dem Gam 
Kunst hängt, und dem es daher gewissei 
naturnotwendig oft an den rechten Mal 
fehlt. Obiektivität in der Beurteilung f 
Schaffens wird von ihm nicht vordringli 
langt. Ganz zu Recht aber wird vom 
Objektivität (und das ist die Feststellu 
Wahrheit!) erwartet. Sie läßt sich durcha 
damit vereinen, daß ein Kritiker Partei l 
Lessing wußte um (und rühmte!) die Qu 
von Corneille und Racine, den Hauptmeist 
tragedie classique, des höfischen Drama: 
dem trat er für Diderot, und das ist für d 
bürgerliche Drama, ein, von dessen Nah 
keit er überzeugt war. 
Intuition ist vonnöten 
Die Tätigkeit des Kritikers bedarf nicht v 
als die des Künstlers der Intuition. Vor 
sinn dessen, der Kritiken schreibt und 
Publikum wirkt, hängt viel für das Schicl 
Künstlers und für den Fortgang der Ki 
Bevor der Kritiker sein Urteil im Begrif 
ahnt er, spürt er, erlebt er. Seiner ErleI: 
kommen Wissen und Erfahrung zu Hi 
schärfen und erhöhen sie, wenn er ein 
von Geblüt ist. Er nimmt nicht nur auf, 
schließlich auch um. Kritik sei Schaffen i 
schaffenem, meinte Oscar Wilde einmal.
	        
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