In der Renaissance kam es zu einem Bündnis
der Literaten mit den Künstlern, was seinen
Grund unter anderem darin hatte, daß sie sich
als Bundesgenossen bei der Arbeit an der Er-
neuerung der Antike empfanden. Die Humani-
sten-Literaten wurden die Herolde der Künstler.
Nach dem anzüglichen Wart eines späteren
Beobachters fanden sie sich „eher bereit, zehn
Sonette als eine Kritik über ein Kunstwerk zu
schreiben".
Dogmen der Akademie
Von der Handwerkerzunft allerdings wurden die
Maler erst durch die Akademien endgültig ab-
genabelt. Die früheste entstand gegen 1600 in
Rom. Rund 50 Jahre später kam es zur Grün-
dung der französischen Akademie. Im Jahre
1664 stattete Colbert sie mit allerlei Vorrechten
aus. Das war gut für die Künstler, wenn auch
nicht durchwegs für die Kunst. Im Staate Lud-
wigs XIV. durfte es nur eine Kunst geben. Der
Akademie oblag es, diese Kunst zu vertreten,
sie zu hüten und ihre reine Lehre festzustellen.
Die akademische Doktrin wurde auf den Kon-
ferenzen der Akademie ausgearbeitet. Ihre Ge-
bote lauteten etwa: l. Die höchste Aufgabe des
Schaffens eines Malers sei die Nachahmung für
vorbildlich erklärter Muster. 2. Die Antike sei
als der ein für allemal gültige Schönheitskanan
anzuerkennen, nach dem die Naturform korri-
giert werden müsse. 3. Das aus dem italieni-
schen decoro entwickelte System von Biensean-
cen und Convenencen sei zu respektieren, mit
dem die Rangordnung und Würdenordnung, ia
die Etikette eines absolutistischen Königshofes
auf die Kunst übertragen wurde. Die höchstge-
stellten Personen waren am nobelsten zu schil-
dern, sie hatten das beste Lidwt und den vor-
nehmsten Platz zu beanspruchen und es war
dafür zu sorgen, daß im Bilde alles nach den
Geboten der höfischen Schicklichkeit zuging. 4.
Vorbildliche Künstler seien Raffael und Poussin,
die echten Dolmetscher und berufenen Hüter
der Antike. 5. Die Farbe sei von geringer Be-
deutung für die Malerei, man habe sich an die
Zeichnung zu halten. Tizian sei mit Raffael nicht
zu vergleichen, weil er dem Glanz der Farbe
zuliebe die Wahrheit preisgegeben habe.
Befreiung durch die Kritiker
Aus solcherlei Anweisungen und sehr zweifel-
haften kunsttheoretischen Annahmen wurde Dak-
trin, ein Beispiel ienes starren Regelwerks, wel-
ches der Tod ieder echten Kunstübung ist. Eine
der großen Leistungen der Kunstkritik im spä-
ten I7. Jahrhundert aber war es, daß sie das
Bollwerk zerbrach, das Maler, nicht Theoretiker,
nicht Kritiker, errichtet hatten. Der Kunstschrift-
steller Roger de Piles wandte sich gegen die
Anmaßungen der Akademie mit den Worten:
„Es ist vernünftig, alles zu schätzen, was schön
ist." Er trat für Rubens und van Dyck, für Tizian,
Veronese und Tintaretto ein. Insbesondere ver-
focht der Schriftsteller dabei das Recht des von
den Regeln unbeeinflußten gesunden Menschen-
verstandes.
Gegen die Berufung auf das Publikumsurteil
konnten schließlich auch die Akademiker nicht
an, denn das gebildete Publikum war ia ihr
Käufer und ihre Existenzgrundlage, wenn man
von den Aufträgen absah, die sie durch den
Staat erhielten und die damals immer weniger
wurden. Der Einfluß des Publikums und seiner
Sprecher, nämlich der Kritiker, wurde um so be-
deutender, ie mehr ein regelmäßiges Ausstel-
lungswesen und Zeitungs- und Zeitschriftenwe-
sen sich durchsetzte. Dies ist im I8. Jahrhundert
geschehen. Ab 1759 schrieb Denis Diderot seine
berühmten Aufsätze über Kunst. Er schlug die
RR
Schlacht gegen den inneren Kreis des Liebhaber-
und Sammlerpublikums, das selber Engstirnig-
keit zu entwickeln begann. Von nun an traten
Kritiker nicht mehr als die Sprecher der Publi-
kumsmeinung auf, sondern als selbständige, auf
eigene Faust urteilende Wesen. An allen großen
Wendungen in der bildenden Kunst seit ienem
Kampf gegen die Akademie und seit Diderot
waren Kritiker im modernen Sinn wesentlich
mitbeteiligt.
Die wahre Geschichte der Kunstkritik
Es mag eingewendet werden, daß, wenn schon
Bereitschaft bestehe, die Existenz von bedeuten-
den Kritikern anzuerkennen, so doch auch die
erkleckliche Anzahl mittelmäßiger, miserabler
und reaktianärer Kunstkritiker zugegeben wer-
den müsse, die eine Menge Dummheit geschrie-
ben und Unheil angerichtet hätten. Dagegen
Iäßt sich fürs erste dies vorbringen: Sowenig
die wahre Geschichte der Malerei als eine Ge-
schichte der mittelmäßigen, miserablen und reak-
tionären Maler geschrieben werden kann, deren
es naturgemäß ia ebenfalls eine Menge gibt,
sowenig ist die Geschichte der Kunstkritik als eine
Geschichte der schlechten Kritiker zu schreiben.
Der Künstler ist werkgebunden
Wenn man von den Vorurteilen absieht, die aus
dem irrationalistischen modernen Geniekult er-
fließen, so hört man auch von vernünftigen Leu-
ten nicht selten die Meinung, daß über Kunst
am besten die Künstler rechten würden. Von
Joshua Reynalds hingegen stammen die resignie-
renden Worte: „Früher glaubte ich, die besten
Beurteiler der Malerei seien die Maler selbst,
aber ietzt weiß ich, daß dem nicht so ist."
Der Maler ist ia vor allem gebunden an das
eigene Werk!
Wissen wir denn nicht um die grotesken Fehl-
urteile, die sogar geniale Künstler über andere
geniale Künstler füllten? Michelangelo und Leo-
nardo waren nicht nur Rivalen, auch im Inner-
sten verstanden sie einander nicht. Händel wollte
von Bach nichts wissen, und über Gluck bemerkte
er: „Selbst mein Schuhputzer schreibt einen bes-
seren Kontrapunkt." Goethe verdonnerte Kleist
und E. T. A. Hoffmann, auch schätzte er Jean
Paul und Hölderlin nicht. Klopstock bezeichnete
Goethes „lphigenie" als eine steife Nachah-
mung der Griechen. Schiller hielt Haydns „Schöp-
fung" für einen charakterlasen Mischmasch. Grill-
parzer lehnte Novalis radikal ab; Carl Maria
von Webers „Euryanthe" wurde von Grill-
parzer „geradezu polizeiwidrig" genannt. Lenau
fand in Schubert „zu viel Dissonanzen", Hugo
Wolf wütete wie ein Berserker gegen Brahms,
auf den auch Wagner nicht gut zu sprechen war.
Zola hieß Gottfried Keller „einen ganz gemei-
nen Kerl". Für Tolstoi war Shakespeare ein
Schmierenpoet, für Gutzkow Wagner „ein musi-
kalischer Vertreter des Bösen". Cezanne behan-
delte van Goghs Bilder mit einem Fußtritt. Van
Gagh bewunderte Meissonier, einen der Haupt-
vertreter der Salanmalerei, und haßte lngres.
Degas brachte van Gagh zur Verzweiflung. In
Cezanne sah van Gagh nur einen Aufschneider,
und Kokoschka nennt Picasso heute noch einen
Scharlatan. Van den Urteilen iüngerer Künstler
der einen Richtung über die Künstler anderer
Richtungen muß hier wohl nicht gesondert be-
richtet werden.
Primär und sekundär
Der Künstler kann irren, der Kritiker kann
ebenfalls irren, aber Kunst ist das Primäre, Kri-
tik das Sekundäre, werden die Kritiker der
Kunstkritik einwenden. In Lessings „Entwürfen
und Fragmenten zu Laokoon" hingegen heißt es:
„Wir sind darin einig, daß die Kritik ein:
senschaft ist, die alle Kultur verdienet; g
daß sie dem Genie auch zu gar nichts
sollte." Dabei genoß Lessing immerhin de
teil, zugleich Künstler und Kritiker zu sei
tik war ihm eine Sache für sich. Die Fragt
dem Vorrang hat er erst gar nicht gestellt.
Für den, der sich dem großen Manne ansct
möchte, wäre der Kritiker dann falgericht
es mit der größten Deutlichkeit zu verrr
so sekundär zur Kunst wie der Zoolog
Maus oder zum Elefanten, wie der Bot
zum Gras und zur Blume, wie der His
zum Politiker, wie der Soziologe zur l
schaft, wie der Wissenschaftler zum Gege
seiner Wissenschaft überhaupt.
Zur Definition der Kunstkritik
Kunstkritik hat eine Fülle von Funktione
wenig sie allein Werbung, Erläuterung, f
erstattung oder Polemik ist, ist sie da:
doch auch. Dresdner nennt sie „dieienigi
ständige, literarische Gattung, welche die
suchung, Wertung und Beeinflussung de
genössischen Kunst zum Gegenstand hat".
kritik untersucht und wertet. Und nicht
als Kunsttheorie, von Plato, Aristoteles ur
leau bis Winckelmann, Lessing und Brett
sie zu wiederholten Malen sehr weser
Einfluß auf den Fortgang der Kunst genc
Das, worin ich selber die Hauptaufgal
Kunstkritik sehe; die Feststellung der W
über Kunst, hat die Kunstkritik im engere
mit den Disziplinen der Kunstwissenschc
Kunsttheorie, der Kunstgeschichte gemei
muß der Kritiker viel rascher reagiere
wirkt er viel unmittelbarer auf das vor
hende Geschehen ein. Nichts ist schwierig
die Wahrheit gerade in den Dingen de:
zu finden. Daher ist Kunstkritik oft auch 4
Suche nach Kriterien für die Bewertui
Kunst, und freilich tappt sie nicht sel
dunkeln. Das Verlangen nach verläßlicher
thoden wurde gerade in der neueren Dis
wieder laut.
Kunstkritik ist Fleiß und Bemühung. Der
kritiker beschäftigt sich, wenn er rich
Platz ist, in der Regel mehr und intensi
Kunst als sein Publikum. Er beschäfti
anders mit ihr als der Künstler, der ia n
seiner eigenen Sache als an dem Gam
Kunst hängt, und dem es daher gewissei
naturnotwendig oft an den rechten Mal
fehlt. Obiektivität in der Beurteilung f
Schaffens wird von ihm nicht vordringli
langt. Ganz zu Recht aber wird vom
Objektivität (und das ist die Feststellu
Wahrheit!) erwartet. Sie läßt sich durcha
damit vereinen, daß ein Kritiker Partei l
Lessing wußte um (und rühmte!) die Qu
von Corneille und Racine, den Hauptmeist
tragedie classique, des höfischen Drama:
dem trat er für Diderot, und das ist für d
bürgerliche Drama, ein, von dessen Nah
keit er überzeugt war.
Intuition ist vonnöten
Die Tätigkeit des Kritikers bedarf nicht v
als die des Künstlers der Intuition. Vor
sinn dessen, der Kritiken schreibt und
Publikum wirkt, hängt viel für das Schicl
Künstlers und für den Fortgang der Ki
Bevor der Kritiker sein Urteil im Begrif
ahnt er, spürt er, erlebt er. Seiner ErleI:
kommen Wissen und Erfahrung zu Hi
schärfen und erhöhen sie, wenn er ein
von Geblüt ist. Er nimmt nicht nur auf,
schließlich auch um. Kritik sei Schaffen i
schaffenem, meinte Oscar Wilde einmal.