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Volltext: Alte und Moderne Kunst VI (1961 / Heft 45)

wisser Hinsicht schon vorwegnah- 
men, wie etwa das „Weiherhäus- 
ehen". Diese Aquarelle „sind aus 
einem neu erwachenden Blick in 
die Welt entstanden und durch die 
Frische dieses Blicks auch farbig oft 
so herrlich geraten, wie nur selten 
ein Tafelbild Dürers". 
Um jene Einheit zu sehen, die wir 
Landschaft nennen, war eine ganz 
eigene innere Einstellung und See- 
lenhaltung notwendig. die Befrei- 
ung vom Gebundenscin im sch0la- 
stisch-mittelalterlichcn Denken. Die 
Malerei läßt uns hier an einem ganz 
einzigartigen, die Grundlagen der 
neuzeitlichen Welt schaffenden 
Prozeß teilnehmen, den sie wie 
nichts sonst in seinem kla- 
ren Ablauf manifestiert. Mit dem 
Beginn der Landschaftsmalerei ist 
das Eindringen in die Vorstellung 
des zum erstenrnal von Nikolaus 
von Kues erfaßten Begriffs vom Un- 
endlichen verbunden, sie setzt das 
Bcwußtsein des Persönlichen, des 
Ich voraus und läßt die erste indi- 
 
viduell-subjektive Wcllsichl 7u. Siv 
eherlich ist es nicht der 1x nstler 
allein oder an erster Stelle, der in 
neue Regionen des Denkens und 
Sehens vorstößt; zum großen Teil 
ist er aber derjenige, der die Um- 
Schichtung der neuen Geisteshal- 
tung aufzeigt, beweist. Seine Bilder 
aber brachten den Stein erst ins 
Rollen, machten die vollzogene Um- 
schichtung einem breiteren Kreis 
klar, lehrte den bildhetrachtenden 
Menschen, so zu sehen, wie er: Mo- 
dern und selbst dem kleinsten Ding 
gegenüber aufgeschlossen. Durch 
ihn drang das neue Seinsbewußtsein 
in breitere Schichten ein - und so 
ist es die Jahrhunderte hindurch ge- 
hliehen, ist es noch heute. Ver- 
wickelte geistige Zusammenhänge 
manifestieren sich in so einem Bild, 
einer Epoche der Malerei oft klarer, 
als in dickleibigen, zähen Abhand- 
lungen. 
Daß die Begegnung mit der Land- 
schaft ein Abenteuer war, ähnlich 
dem der Entdeckung eincs neuen 
Kontinents, kann man sich heute 
kaum noch vorstellen. Aber man 
sieht auf den ersten Bildern (in Alt- 
dorfers hl. Georg z. B.), wie verlo- 
ren sich der Mensch noch in der 
Landschaft vorkommt, wieviel Mut 
der Erkundungsgang in eine offene 
Endlichkeit erfordert. Es sind kleine 
Gestalten, die sich in der Weite und 
Tiefe des Landes fast verlieren. Das 
Gebirge, das eigentlich erst viel 
später entdeckt wird, gilt ihnen als 
von Dämonen und Ungeheuern be- 
wohnt, das erste Eindringen in un- 
bekannte und unerforschte Regio- 
nen erforderte einen Wissensdrang, 
der die heimliche Angst überbot. 
„Landschaften schildern bei Wind 
und Regen und beim Untergang und 
Aufgang der Sonne" (Leonardo da, 
Vinci) - „das zeugt von einem un- 
gchcuren Drang, in der Natur auf- 
zugeben, die eigene Person in ihren 
Ablauf hineinzustellen." 
Die Entwicklung des neuen Se- 
hens und Begreifens schreitet rasch 
und sich stets wandelnd vorwärts. 
Freilich ist damit auch ein Verlust 
an Weltgehalt und Weltganzheit 
verbunden, wie er hochmittelalter- 
liehen Altarbildern noch eigen war. 
Ein Teilstück wird herausgegrif- 
fen, das bevorzugte Format des 
von naturwissenschaftlichen, phy- 
sikalischen Gesetzen beherrschten 
17. Jahrhunderts ist das quergela- 
gertc. Es entstehen nun Wald-, 
Berg-, Flach-, Fluß- und Strand- 
landsehaftcn. Aber noch wirken alle 
Bilder wie gestellt, das Naturchaos 
bleibt noch einem bildnerischen 
Prinzip, der Komposition, unterwor- 
fen. Erst im 19. Jahrhundert findet 
das Zufällige in der Natur Eingang 
ins Bild. Den Endpunkt dieser Ent- 
wicklung fixiert dann die um 1840 
erfundene Photographie, das denk- 
bar präziseste und genaueste Bild 
eines Naturaussehnitts wird mög- 
lich. Damit ist die Landschaftsmale- 
rei, ist die der sichtbaren Wirklich- 
keit nachjagende, kopierende, ab- 
bildcnde Malerei aber auch schon 
ad absurdum geführt, wenn es auch 
noch einer verhältnismäßig langen 
Entwicklung bedarf, bis man auf 
die Natur als das Gefäß, aus dem 
man ständig schöpfen kann, zwar 
nie ganz verzichten lernt, aber zu 
neuen Weltlandschaften, Ganzhei- 
ten vor-stößt und damit in gewisser 
Weise an den Geist anknüpft, der 
das exemplumhafte, mittelalterliche 
Bild beherrschte. 
Wir sind der Entwicklung voraus- 
geeilt. Im 15. und 16. Jahrhundert 
kann von einer direkten Auseinan- 
dersetzung mit der Natur noch 
nicht gesprochen werden. Immerhin 
erleben wir bei Pieter Brueghel d. Ä. 
ein endgültiges und der allgemei- 
nen Entwicklung schon voraus- 
eilendes Erhöhen der Landschafts- 
malerei zur vollwertigen, selbstän- 
digen Bildgattung, und ihre volle 
Entfaltung in den von Naturein- 
drücken herkommenden Monatsbil- 
dern, Welt- und Mischlandschaften, 
deren literarischer Inhalt noch 
deutlich ist. Während auch das 
17. Jahrhundert nur im Atelier ge- 
malte Landschaften kennt, drängt 
die Entwicklung erst im 18. Jahr- 
ß Zwei Landschaflsmalcr. Lithographie 
von Honore Daumicr. 
7 Am Übergang zur modernen All- 
Landschaft „Ziehende Wolken", ein 
nach 1811 entstandenes Gemälde von 
Cnspar David Friedrich. Hamburg, 
Kunsthalle. 

	        
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