u,
Wir haben somit als erste Quelle unserer symbolischen Darstellung
den Physiologus der Deutschen und die Bestiaeres der Franzosen kennen
gelernt. Einen der ersten Versuche, diese Auffassung im Bilde wieder-
zugeben, bringe ich zur Anschauung. In der gereimten Bearbeitung des
jüngeren deutschen Physiologus, einer Klagenfurter Handschrift, die vor dem
Jahre 1200 entstanden ist, jagt ein junger Mann mit Pfeil und Bogen nach
dem Einhorn, das sich zu einer auf einem Throne ruhenden Jungfrau flüchtet.
Sie ist hier nicht als die seligste Jungfrau Maria gedacht, denn der Text im
Klagenfurter Physiologus ist so zu verstehen: Um das Einhorn einfangen
zu können, wähle man eine Magd vom Lande, somit ein unverdorbenes
Mädchen, führe sie in die Stadt, wo das Einhorn emsig nach sinnlicher
Speise, nach reinen Jungfrauen umsonst suche. Erblickt das Tier dann die
Magd, so springe es sofort in ihren Schoß und schlafe dort ruhig ein.
Als älteste Darstellung des Einhorns bei der Szene der Verkündigung
ist das Antependium der ehemaligen Nonnenabtei Göß in Steiermark
bekannt. Von den Rundmedaillons zeigt das mittlere Maria als Himmels-
königin, das linke die Anbetung der heiligen drei Könige, das rechte Medaillon
endlich die Szene der Verkündigung in höchst primitiver Auffassung. Im
leeren Raume zwischen Maria und dem Erzengel ist ein ganz kleines Ein-
horn mit wagrecht nach vorn gerichtetem Horn zu sehen. Diesen Altar-
behang verfertigte im XIII. Jahrhundert Äbtissin Chunegunde, die sich auch
mit einer Herde, ihre schutzbefohlenen Frauen des Klosters bezeichnend,
als Geschenkgeberin kniend dargestellt hat. Ihr gegenüber kniet Adala als
Stifterin des Klosters. Auf einer Dalmatika im gleichen Besitz ist ein Einhorn
allein dargestellt und als „spiritualis unicornis" bezeichnet. Wir haben im
Antependium von Göß eigentlich einen sehr wichtigen Beleg für die histo-
rische Entwicklung der mystischen Jagd. Der Erzengel Gabriel ist nicht als
Jäger gekennzeichnet und das Tier nähert sich scheinbar in voller Ruhe der
Antependium aus Kloster St. Ottilienberg. Vormalige Sammlung Graf Üxkllll-Gyllenband