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Volltext: Monatszeitschrift XXI (1918 / Heft 3 und 4)

halb gewisser Schranken bleibt. Michel Angelo ist ihm bei aller Größe, die er zugibt, eine 
unheimliche Erscheinung und ein Verhängnis für die spätere Kunst. In der Barocke sieht 
er zuerst (im „Cicerone") eine Entartung und Verfall, nur ihre monumentale Baugesinnung, 
die sich in der Großräumigkeit ihrer Kuppelkirchen und Paläste ausspricht, anerkennt er, 
später wird er nachsichtiger und prophezeit ihr richtig eine zukünftige noch höhere 
Schätzung. Und die Schwärmerei seines Alters war zuletzt ein Maler der Barocke. Ihm 
verdankt die Kunstgeschichte auch die Konstatierung des Vorteils, der den Künstlern der 
Antike, des Mittelalters und der Renaissance daraus erwuchs, daß sie nicht auf Originalität 
ausgingen, sondern immer wieder denselben Vorwürfen neue Seiten abzugewinnen suchten. 
Auch auf die Wichtigkeit des Materials und der Gesinnung der Besteller dürfte er zuerst 
hingewiesen haben. Für die Kunst des XIX. Jahrhunderts, namentlich die ersten Erschei- 
nungen der Moderne, fehlte ihm das Organ und auch der gute Wille, sich um ihr Verständnis 
zu bemühen. Nur wenn sie, wie bei Böcklin, in den Spuren der großen alten Meister wan- 
delte, hat er eine sparsame Anerkennung für sie. 
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Es ist so nicht gar viel, was er an bleibenden Resultaten der Kunstgeschichte zugebracht 
hat; das, was man seinerzeit als das Wichtigste ansah, seine Auffassung der Renaissance, 
namentlich der außeritalienischen, wird schon längst bestritten, ja man hat von einem 
„Gespenst derBurckhardtschen Renaissanceauffassung" sprechen dürfen, das einer richtigen 
Würdigung der deutschen Renaissance im Wege steht." Was wir heute an seiner Kunst- 
schriftstellerei schätzen und, wie wir wenigstens glauben, immer als einen Reiz an ihr 
empfinden werden, ist in der Tat etwas anderes. Zuerst die visionäre Kraft, mit der er die 
Werke der Kunst anzudeuten versteht. Wir greifen auf Geratewohl aus der Fülle seiner 
Bemerkungen über Bilder, wie sie sich zum Beispiel in dem Aufsatz über das italienische 
Porträt ausgestreut finden, einige heraus: Aus Raffaels Castiglione im Louvre sprechen ihm 
„leidensfähige Züge", aus Tizians Francesco della Rovere in den Uflizien „eine schreckliche 
Wahrheit", an dem Herzog von Norfolk desselben Malers fällt der „unbeschreibliche, dem 
Irrsinn nicht ganz ferne Blick" auf, ein Brustbild von Verrocchio in den Uflizien charak- 
terisiert er als „voll verschlossener Kraft und nicht ohne einen Zug von Kummer", der 
Kardinal Poole des Sebastian dal Piombo ist ihm von wahrhaft königlichem Geblüt, ehr- 
würdig in seinem Gram, einen Greis des Morone in Brescia als „von unendlicher Lebens- 
erfahnmg"; ein bejahrter Mann von Antonello-da Messina in der Sammlung Trivulzi in 
Mailand ist ihm „höchst merkwürdig durch den hinterhältigen Blick: eine Voraussicht oder 
Absicht des Schlimmen, welche sich heute jedermann im Porträt verbieten würde", von dem 
„rätselhaften" Herrn im Pelzrock des Parrneggianino in der Wiener Galerie, der soeben 
durch eine Tür, an der eine Hellebarde lehnt, eingetreten ist, ergreift ihn der Gedanke, 
ob der wohl durch diese Tür habe wieder hinausgehen dürfen. Aus den Antlitzen der am 
Kalvarienberge eingeschlafenen Jünger des Herrn von Giotto liest er heraus, daß sie in 
frommen Gedanken entschlummert sind, aus dem tiefernsten Ausdruck der vier Heiligen 
auf der Disputa des Del Sarto im Palazzo Pitti, daB es sich in ihrem Gespräch um ein 
Höchstes handelt; in der Madonna di Foligno hat ihm Ralfael „das Wunder vollbracht, 
seinen Sigismondo Conti so zu den drei ekstatischen Heiligen zu stimmen, wie ein tief- 
ergrilfener armer Erdensohn zwischen höher beseelten Wesen erscheinen muß". 
Zu dieser eigentümlichen Macht der Charakteristik kommt noch ein anderes. Schon aus 
den gegebenen Beispielen spricht eine lebendige Teilnahme des Beschauers -_ es ist kein 
Kritiker, der mit seinem Notizbuch in der Hand die Bilder mustert, er steht vor den Werken, 
die er schildert, wie jener Sigismondo Conti zwischen den Heiligen, in tiefer innerer 
Ergriffenheit. Es geht dann durch den in der Regel vorwaltenden Ton des überlegenen 
kühlen Raisonneurs wie ein leises Vibrieren, das nach dem Zeugnis seiner Zuhörer auch 
die Höhepunkte seiner Vorträge bezeichnet haben soll. Dies geschieht zumeist, wenn er 
f H. Titze in den „Kunstgeschichtlichen Anzeigen" von Wickhoftj 1906, Nr. 4.
	        
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