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Künstler müsse die an viele Menschen einzeln vertheilten schönen Theile
zusammensuchen und aus ihnen ein schönes Ganzes zusammensetzenm
Dies gäbe gewiss ein widernatürliches Gebilde. Die Natur selbst bildet ihr
Ideal in vollendetster Form, in schönster Harmonie. Es handelt sich nur
darum, dass wir den Blick und das Verständniss haben, es zu erkennen.
wDass alle Theile des menschlichen Körpers", sagt Schopenhauer,
"auf die gehörige Weise dem Ganzen untergeordnet und einander neben-
geordnet seien, harmonisch zur Darstellung des Ganzen conspiriren -
dies sind die seltenen Bedingungen, deren Resultat die Schönheit, der voll-
kommen ausgeprägte Gattungscharakter istw
Die Griechen, deren Sculpturen unerreicht dastehen, waren zu ver-
schiedenen Zeiten bemüht, einen Canon für die menschliche Gestalt auf-
zustellen. Dieses Bestreben der Alten (Polyklefs und vor ihm schon an-
derer) betraf die Aufstellung einer Normalgestalt. Polyklet-hat bekannt-
lich die normalen Verhältnisse aller einzelnen Körpertheile zu einander
und zum Ganzen in festem Zahlenausdruck in einer eigenen Schrift nieder-
gelegt. Genau nach den Resultaten seiner Studien arbeitete er aber auch
eine Normalgestalt, in der er seine Lehren gleichsam thatsächlich machte
und erprobte -- den sogenannten Doryphoros. Die Urtheile der Alten
über diese Normalgestalt Polyklefs enthalten die Anerkennung, dass sie
wirklich normal, von jedem Extrem entfernt im höchsten Grade massvoll
gewesen sei. (Overbeck.) Was sagt dies anderes, als Polyklet's Gestalten
seien das Resultat aus sinnlich Wahrgenommenem und Beobachtetem gewesen!
.Wie wir im Laufe unserer anatomischen Betrachtung dahin kamen,
dass es Aufgabe des Künstlers ist, den menschlichen Körper in allen seinen
Theilen als harmonisches belebtes Ganzes aufzufassen und wie er darin
die sicherste Gewähr einer naturwahren Darstellung der menschlichen Ge-
stalt fand, so findet er auch nur auf diesem Wege das Verständniss des"
Schönen. Alles Idealisiren des menschlichen Körpers kann nur auf einem
Abstrahiren aus Naturbeobachtungen beruhen.
vDie Naturr, schliessen wir mit Goethe, "die Natur scheint um ihrer
selbst willen zu wirken, der Künstler wirkt als Mensch um des Menschen
willen. Aus dem, was uns die Natur darbietet, lesen wir uns im Leben
das Wünschenswerthe, das Geniessbare nur kümmerlich heraus; was der.
Künstler dem Menschen entgegenbringt, soll alles den Sinnen fasslich und
angenehm, alles aufreizend und anlockend, alles geniessbar und befriedi-
gend, alles für den Geist nährend, bildend und erhebend sein. Und so
gibt der Künstler, dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte,
ihr eine zweite Natur,'aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich
vollendete zurück. Soll dieses aber geschehen, so muss das Genie, der
berufene Künstler nach Gesetzen, nach Regeln handeln, die ihm die Natur
selbst verschrieb, die ihr nicht widersprechen, die sein grösster Reichthum
sind, weil er dadurch sowohl den grossen Reichthum der Natur, als den
Reichthum seines Gemüthes beherrschen und brauchen 19111144