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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe IX (1874 / 106)

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Künstler müsse die an viele Menschen einzeln vertheilten schönen Theile 
zusammensuchen und aus ihnen ein schönes Ganzes zusammensetzenm 
Dies gäbe gewiss ein widernatürliches Gebilde. Die Natur selbst bildet ihr 
Ideal in vollendetster Form, in schönster Harmonie. Es handelt sich nur 
darum, dass wir den Blick und das Verständniss haben, es zu erkennen. 
wDass alle Theile des menschlichen Körpers", sagt Schopenhauer, 
"auf die gehörige Weise dem Ganzen untergeordnet und einander neben- 
geordnet seien, harmonisch zur Darstellung des Ganzen conspiriren - 
dies sind die seltenen Bedingungen, deren Resultat die Schönheit, der voll- 
kommen ausgeprägte Gattungscharakter istw 
Die Griechen, deren Sculpturen unerreicht dastehen, waren zu ver- 
schiedenen Zeiten bemüht, einen Canon für die menschliche Gestalt auf- 
zustellen. Dieses Bestreben der Alten (Polyklefs und vor ihm schon an- 
derer) betraf die Aufstellung einer Normalgestalt. Polyklet-hat bekannt- 
lich die normalen Verhältnisse aller einzelnen Körpertheile zu einander 
und zum Ganzen in festem Zahlenausdruck in einer eigenen Schrift nieder- 
gelegt. Genau nach den Resultaten seiner Studien arbeitete er aber auch 
eine Normalgestalt, in der er seine Lehren gleichsam thatsächlich machte 
und erprobte -- den sogenannten Doryphoros. Die Urtheile der Alten 
über diese Normalgestalt Polyklefs enthalten die Anerkennung, dass sie 
wirklich normal, von jedem Extrem entfernt im höchsten Grade massvoll 
gewesen sei. (Overbeck.) Was sagt dies anderes, als Polyklet's Gestalten 
seien das Resultat aus sinnlich Wahrgenommenem und Beobachtetem gewesen! 
.Wie wir im Laufe unserer anatomischen Betrachtung dahin kamen, 
dass es Aufgabe des Künstlers ist, den menschlichen Körper in allen seinen 
Theilen als harmonisches belebtes Ganzes aufzufassen und wie er darin 
die sicherste Gewähr einer naturwahren Darstellung der menschlichen Ge- 
stalt fand, so findet er auch nur auf diesem Wege das Verständniss des" 
Schönen. Alles Idealisiren des menschlichen Körpers kann nur auf einem 
Abstrahiren aus Naturbeobachtungen beruhen. 
vDie Naturr, schliessen wir mit Goethe, "die Natur scheint um ihrer 
selbst willen zu wirken, der Künstler wirkt als Mensch um des Menschen 
willen. Aus dem, was uns die Natur darbietet, lesen wir uns im Leben 
das Wünschenswerthe, das Geniessbare nur kümmerlich heraus; was der. 
Künstler dem Menschen entgegenbringt, soll alles den Sinnen fasslich und 
angenehm, alles aufreizend und anlockend, alles geniessbar und befriedi- 
gend, alles für den Geist nährend, bildend und erhebend sein. Und so 
gibt der Künstler, dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte, 
ihr eine zweite Natur,'aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich 
vollendete zurück. Soll dieses aber geschehen, so muss das Genie, der 
berufene Künstler nach Gesetzen, nach Regeln handeln, die ihm die Natur 
selbst verschrieb, die ihr nicht widersprechen, die sein grösster Reichthum 
sind, weil er dadurch sowohl den grossen Reichthum der Natur, als den 
Reichthum seines Gemüthes beherrschen und brauchen 19111144
	        
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