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Volksschule oder, wie dies jetzt in Mode ist, nach absolvirter Unter- oder
Oberrealschule zur Erwerbung der handlichen Fertigkeiten schreiten.
Wenn einer oder der andere von den Herren sagt: "Lassen wir den Ver-
gleich mit früheren Jahrhunderten gehen und fassen wir die Bedürfnisse
der Gegenwart in's Auges, so soll das wohl heissen, das ihnen ein solcher
Vergleich nicht angenehm ist, weil derselbe den gegenwärtigen Stand der
Kunstindustrie und der Kunst neben dem Stand ihrer höchsten Vollendung
vor Augen führt und dieser Vergleich nicht zu Gunsten der Gegenwart
ausfällt. Es ist ihnen ferner ausserordentlich unbequem, wenn constatirt
wird, dass die Gewinnung von kunstgewerblichen Fertigkeiten in jungen
Jahren regelmässiger Zustand der kunsthandwerklichen und künstlerischen
Bildung war, dass nur dieser Zustand es war, der es erklärt, dass mit
dem 17., 18. und 19. Lebensjahre die meisten der jungen Leute, die für
das Gewerbe und für die Kunst nöthigen praktischen Fertigkeiten sich
vollständig zu eigen gemacht haben, während dies heutigen Tags nicht
der Fall ist. Es gibt im Ganzen nur sehr wenige Künstler, die durch den
Umstand keinen Schaden leiden, dass sie erst im 18., 19., ja selbst im
20. Lebensjahre sich jene Fertigkeiten aneignen, die man sonst mit dem
11., 12., 13. oder 14. Lebensjahre, d. h. zu einer Zeit erwerben konnte,
die der Knabe leider heute in der allgemeinen Volksschule absitzen muss.
Mit einer fast komischen Naivetät hat sich über den Zusammen-
hang der rein künstlerischen Bildung mit der gewerblichen Bildung ein
Wiener Vertreter der Bürgerschule ausgesprochen. Das Charakteristische
für den Standpunct, der unseren Volksschullehrern in dieser Frage eigen
ist, bildet der betreffende Passus, welcher zu bezeichnend scheint, um
nicht citirt zu werden; er lautet: nDer schwächste Punkt in dem viel-
genannten Vortrage des Herrn Hofrathes ist gewiss der, wo auf die grossen
Künstler hingewiesen wird, die es geworden sind, ohne dass sie in einer
allgemeinen Volksschule einer achtjährigen Schulpflicht genügt hätten. Dass
grosse und geniale Künstler, wie Paul Potter, van Dyck, Adrian van Ostade,
Jean Wernik (recte Jan Weenix), Lucas von Leyden, Michel-Angelo, Dürer
u. A. schon in ihrem zartesten Alter Bedeutendes auf technischem und
künstlerischem Gebiete geleistet haben, muss uns nicht Wunder nehmen;
dafür waren es eben gottbegnadete Genies, die eine gütige Vorsehung als
hellstrahlende Leuchten zum Heile der Menschheit geschahen! Und auch
Herr Hofrath Eitelberger wird nicht mit apodiktischer Gewissheit behaupten
können und behaupten wollen, dass alle diese Männer weniger grosse
Künstler-geworden wären, wenn sie sich in unserer jetzigen Volksschule
eine ausreichende allgemeine Bildung erworben haben würdenß-
Vorerst muss ich, um einer unrichtigen Auffassung, insbesondere
von auswärtigen Lesern vorzubeugen, eine scheinbar gleichgiltige Aeusse-
rung berühren. Man nennt mich unablässig wHerr Hofrathu, und es könnte
dadurch die Meinung entstehen, dass ich irgend einem Staatsamt vorstehe.
Hofrath ist bei Lehrern nur ein Titel, und zwar ein Titel, der mit meiner