Luisu Maria Autzingrr, Aus dem Zyklus "Strömungcn", Kchwurz-wciß Luisc Maria Aulzingcr. Am dcm Zyklus „Organische "Frichklzlflc".
Lithographie. Lithographie.
gewollt, vieles von den neuen Erkenntnissen unserer Zeit ein,
die tiefer als je zuvor in das geheimnisvolle Wesen der Dinge,
in die Zusammenhänge von Materie und Kraft, in den Aufbau
der Welt eindringen. Es ist in einem tieferen und weiteren Sinn
unsere Welt, unser Leben, das sie paraphrasieren und diese Welt
spiegelt sich ja in einem Menschem-dessen Wesen und dessen Er-
lebnisrnöglichkeiten, ob er will oder nicht, in dieses Spiegelbild
mit einfließen. Sowie uns ein Porträt der alten Kunst nicht nur
über den Dargestellten, sondern auch über den Künstler Auf-
schluß gibt, so sind auch die Werke eines abstrakten Künstlers in
einem bestimmten Sinn Ausdruck seines Ichs und erhalten da-
mit einen zusätzlichen Wert. Auch hier gilt das Wort: „Kunst
istidie Welt gesehen durch ein Temperament".
Man sollte meinen, daß auch das Publikum nicht allzusehwer den
Zugang zu dieser 'ncuen.Kunst finden müßte. Gerade weil sie an-
spruchsloser ist, uns mehr Freiheit läßt, auf welche Weise wir
Beziehung zu ihr gewinnen wollen, müßte sie sich doch leichter
in unsere Umgebung einfügen. Ein abstraktes Bild müßte in un-
serer Wohnung den Platz einnehmen, den etwa ein schönes oder
seltsames Naturgebilde einnehmen kann, bereichert nur um die
Wärme und den Geist, der dem Kunstwerk von seinem Schöpfer,
dem Künstler mitgegeben wurde; einen Platz also verwandt dem,
den eine schöne Keramik oder sonst ein Gegenstand des Kunst-
gewerbes einnimmt. Es müßte ein Hausgenosse sein, den man
immer wieder mit Vergnügen betrachtet, weil er immer wieder
neue Assoziationen in uns weckt.
Aber davor. sind wir noch weit entfernt, und das hat natürlich
viele Gründe: so die jahrhundertelange Gewöhnung daran, daß
Kunst Abbild von etwas ist, dessen Richtigkeit an seinem Vor-
bild gemessen werden kann; sowie die Vorstellung, daß der
Künstler ein Genius der Menschheit ist, der höchste Wahrheiten
gestaltet und tiefste Erschütterung auslöst, eine Vorstellung, die
der Künstlerkult des vorigen Jahrhunderts besondersgenährt
hat. Man hat vergessen, daß Kunst immer auch ein Spiel war und
daß auch frühere Zeiten nicht immer in intimster Nachbar-
schaft mit dem Erhabenen gelebt haben. Man hat sich noch nicht
an die größere Freiheit gewöhnt, die das abstrakte Kunstwerk
dem Betrachter läßt. Man entbehrt nur ungern die engere, zwin-
34
gendere Führung, dic das alte Kunstwerk auferlegte. So man-
cher Betraehter ist gern bereit, zugegeben, daß an einem ab-
strakten Bild die Farben, die Flächen, die Linien, der Rhythmus
schön, interessant, geistreich, witzig, lebendig usw sind, aber er
erfaßt nicht, daß er damit jn bereits entscheidende Werte erlebt
hat, soviel, wie er etwa von einem Musikstück zu erleben
gewohnt ist. Er fordert auch noch Werte, wie er sie von der
älteren Kunst gewohnt ist, er frägt nach Bedeutung und Sinn, wo-
möglich nach dem, was dargestellt sein soll. Er will eine litera-
rische Deutung, er will, daß mit Worten ausdrückhar sein soll,
was doch eben nur mit Formwerten der Malerei ausgedrückt
werden kann. Oft freilich leisten die Künstler einer solchen Ein-
stellung noch Vorschub, indem sie ihre Bilder mit hochtrabenden
und verwirrenden Titeln versehen und so den Zugang zu ihren
Bildern eher erschweren als erleichtern, weil sie die Freiheit,
die das Werk läßt, einengen.
Eines allerdings ist unbedingte Voraussetzung für das Verständ-
nis eines abstrakten Kunstwerkes und zwar in höherem Maße
noch, als es natürlich auch Voraussetzung für das Verständnis
von Werken älterer Kunst ist: ein Empfinden für Formwerte,
eben für Farben, Flächen, Linien, Rhythmen usw., ähnlich dem
musikalischen Gehör. Aber dieses Empfinden für Formwerte ist
doch sicher viel weiter verbreitet, als das musikalische Gehör. Es
wird nur durch unsere bisherige Schulbildung kaum bewußt ge-
macht, kaum geweckt. Hier liegt sicher ein großes und wichtiges
Feld der Erziehung noch brach vor uns.
Wäre dieses Empfinden von Formwerten bereits allgemein ge-
weckt, dann würde man auch die manchmal sehr deutliche Nähe
und Verwandtschaft der abstrakten Kunst zum Kunstgcwerbc
in höchstem Sinn nicht mehr als Vorwurf empfinden, sondern
vielleicht sogar als Vorzug. Beide hätten dann eine ähnliche
Funktion, nämlich Freude in unser Leben zu bringen, es vom All-
tag in einer nicht allzu anspruchsvollen Form zu lösen. Dazu ge-
hört allerdings auch von Seiten der Künstler ein nicht immer
vorhandenes Maß von Einsicht in die Grenzen dieser Kunst, eine
Bescheidenheit, die auf die Geste des Mysterienverwalters frei-
willig verzichtet.