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bunden, werden sie doch über den politischen
und zwischenstaatlichen Bereich hinaus von den
Erwartungen ihrer Bewohner bestimmt. Diese Er-
wartungen sind in vielem das Gegenbild iener
Erfahrungen, welche die Einwanderer aus Europa
mitgebracht haben. Schon mit der ersten Ansied-
lung puritanischer Dissidenten, der legendären
Pilgrims von der „Mayflawer", wird die iunge
Kolonie zum Ansatz einer religiös-politischen
Utopie, und es ist bezeichnend, daß aus dem
puritanischen Staat Massachusetts bald wieder
Unzufriedene auswandern: Sa entsteht die erste
Tochterkolonie mit religiöser Freiheit, „Rhode
lsland and Providence Plantation", also auf den
Namen der Vorsehung getauft. Diese Kolonie
gewährte schon 1657 englischen Quäkern Schutz
und wurde im Jahre 1776 als erster der 13 Grün-
derstaaten der USA eine Republik. Aus der Ge-
meinschaft der Quäker stammte auch die 1774,
also mitten in den Aufbruchsiahren der amerika-
nischen Geschichte, in die Neue Welt einge-
wanderte Begründerin der Shaker, die Englän-
derin Ann Lee.
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Eine Avantgarde des Zeitbewußtseins
Gerade die erste Phase der Einwanderung, nach
unter britischer Herrschaft und bis etwa 1800, ist
ein Aufbruch des Religiösen ebenso wie eine
Neuerung der Gesellschaft. Die Mennoniten, die
Amish [ursprünglich Pfälzer Protestanten), die
„Hutterer",'die Mährischen Brüder, die Quäker
und mit diesen andere britische Nonk0nfarmi-
sten - diese Namen seien nur als Beispiele ge-
nannt. Wie in dieser noch wenig differenzier-
ten Bewußtseinslage üblich, ist Religion ein Kon-
tinuum weltanschaulicher, gesellschaftlicher und
politischer Vorstellungen. Keine Frage, daß hin-
ter den meisten genannten religiös-politischen
Bewegungen der philosophische Rationalismus
und die Aufklärung Europas stehen. Verglichen
mit den Entfaltungsmöglichkeiten der in Europa
Verbliebenen, ist es in der Tat eine Avantgarde
des Zeitbewußtseins, die da nach Amerika ge-
kommen ist.
Und schon bildet sich die erste radikale gesell-
schaftliche Utopie, die religiös-kommunistische
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schiebung zu beobachten: so als ob Weber den
wirtschaftlichen Aspekt im Auge gehabt hätte.
Indessen handelte es sich vornehmlich um einen
Beitrag zur Religionssoziologie, um Deutung der
religiösen Grundlagen und nicht des kapitalisti-
schen „Systems".
Neben dem puritanischen ist noch ein anderer
Einfluß auf Amerika wesentlich für das Bild der
Zeit: die Natürlichkeitslehre Rausseaus sowie die
von Beniamin Franklin und vor allem von Thomas
Jefferson rezipierte Aufklärung. Beides hat sich
so tief und unverwischbar in das Natianalbewußt-
sein der USA eingeprägt, daß Ralf Dahrendarf
eine Soziologie der heutigen USA unter den
Titel „Die angewandte Aufklärung" stellen
konnte,- die USA sind bis heute von den Gedan-
ken des philosophischen 18. Jahrhunderts inspi-
riert. Nicht ausreichend bekannt in Europa sind
ferner das Wirken Jeffersons, des Hauptautors
der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung,
bei der Rezeption antik-republikanischer Ideale
in das Staatsleben der USA und, damit zusam-
menhängend, die von ihm bewußt vorgenom-