Rudolf Ullik
BETRACHTUNGEN
ZU DEN QUELLEN
DES „SCHÖPFERISCHEN"
IN DER MALEREI
Der nachsiahende Beilrug wurde von einem
Verlreler der Nalurwissenschallen verfußl,
der an den Fragen der modernen Kunsl prak-
lisch und lheorebinh inleresier! ist. Wir Sind
überxeugl. diese Ausführungen unseren Lesern
nichl vorenlhullen lU dürfen, und slellen sie
daher lur Diskusxion.
Für eine Abhandlung über das obengenannle
Thema erscheint als Kunstrichiung die abstrakte
- die gegensfandslose - Malerei besonders
geeignei zu sein. Daß sie von manchen Autoren
als konkrete Malerei definierl wird, möge hier
außer acht gelassen und die einfache Sammel-
bezeichnung "abstrakt" als gültiges Versröndi-
gungsmitiel gebrauch! werden.
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Wenn - wie im abstrakten Bild - die Geltung
des gedanklichen Bildinhaltes ausgeschaltet wird,
dann werden vornehmlich Begriffe über Gestalts-
eigenschatten maßgebend. von denen Metzger
ihrer Natur nach drei Arten unterscheidet. nämlich
erstens die Struktur oder Gefügeeigenschaften.
zweitens die Ganzheitsqualitöt und drittens die
Wesenseigenschaften. welche psychologisch erklär-
bar sind und nach einer Deutung verlangen.
Es möge darauf hingewiesen sein. daß hier Be-
trachtungen im Gebiete subjektiver seelischer
Lebensüußerungen aus der Sicht einer natur-
wissenschaftlich aufgefafiten Psychologie angestellt
werden, ein in der ästhetischen Wissenschaft etwas
ungewöhnlicher Ausgangspunkt, der vielleicht
gewisse Perspektiven eröffnet und Anlaß zu
weiteren neuartigen gedanklichen Kombinationen
bieten könnte, Die Psychologie wird also hier als
neurophysiologisches Geschehen aufgefaßt und
theoretische Konzepte. sofern keine Methode zu
deren Verifizierung angegeben sind. außer acht
gelassen. Es gelten alle Abstufungen. alle Spiel-
arten des Subjektiven als darstellungswürdig. Es
wird die Frage gestellt, aus welchen Bereichen der
psychischen Mechanismen der abstrakte Künstler
die Elemente für seine Darstellungen schöpft. Es
ist die Verhaltenspsychologie und auch die Ge-
staltpsychologie. welche derzeit ein maßgebendes
und fruchtbares Arbeitsfeld der experimentellen
Psychologie ist. die uns den Weg zu einer Antwort
auf diese Frage weist.
Zunächst wird eine wichtige Tatsache zu beachten
sein, welche uns bei unseren Betrachtungen als
grundlegend stets bewußt sein muß. daß nämlich
die Gestaltswahrnehmung - wie die Verhaltens-
psychologie zeigt (Lorenz) - die gleichen Leistun-
gen als Erkenntnisquelle zu erbringen vermag wie
das rationale Denken. und daß sie sich dazu noch
weitgehend gleicher Operationen bedient, welche
allerdings der Selbstbeobachtung nicht zugänglich
sind,
Farbkonstanz, Richtungskonstanz, Formkonstanz
sind Leistungen von Konstanzapparaten. welche
ratiomorph arbeiten. Der hier gebrauchte Begriff
.,ratiomorph" (E. Brunswick) steht in enger Bezie-
hung und Wechselwirkung zum Begriff .,rational"
und dürfte bei Erkenntnisleistungen aufdem Gebiet
der bildenden Künste ein wertvolles Instrument
sein. Zwischen ..ratiomorphen" und „rationalen"
Leistungen dürfte eine strenge Trennung wahr-
scheinlich gar nicht möglich oder gar nicht zu-
lässig sein.
K. Lorenz schildert das Zusammenspiel der ver-
schiedenen Erkenntnisleistungen so, als bestünde
..immer eine klare zeitliche Trennung zwischen
der vorangehenden Entdeckung einer Gesetz-
lichkeit durch ,ratiomorphe' und ihrer darauf
folgenden Veriükation durch .rationale' Vor-
gänge". Lorenz hält diese eben erwähnte Dar-
stellung für einen "Simplismus". was allerdings an
ihrer Brauchbarkeit für uns nichts ändert. .,Ent-
deckungen jeder Art dürften wohl immer ihren
Ausgangspunkt davon nehmen, daß Gestalts-
Wahrnehmungen auf das Vorhandensein eines zu
Entdeckenden aufmerksam machen."
In der Malerei wird also die Aufnahme optischer
Reize irgendwelcher Art die Ausgangsposition
zu später ll'I bildnerischen Akten zu Tage tretenden
Manifestationen werden.
Alle Konstanzapparate sind grundsätzlich als
ratiomorph aufzufassen. sie alle bieten eigentlich
nur Anlaß zur Bildung von Hypothesen. deren
Richtigkeit nur bedingt. wenn auch hochgradig
wahrscheinlich ist. Das Wesen der ratiomorphen
Arbeit der Richtungskonstanz lälit sich aus folgen-
dem, schon Helrnholz bekannten Versuch ver-
ständlich machen. Wenn eine Versuchsperson ihre
Augäpfel mit dem Finger passiv nach einer Seite
verschiebt. also z. B. nach rechts drückt. so werden
die auf seiner Netzhaut abgebildeten Gegenstände
nach der entgegengesetzten Seite. also nach links.
zu wandern scheinen. e Die Verschiebung des
Bildes auf der Netzhaut wird von der Versuchs-
person fälschlich als Bewegung seiner Umgebung
ausgelegt. während hingegen eine Verlagerung
des Netzhautbildes bei Eigenbewegungen des Auges
durch die motorische lnnervation der Augen-
muskeln nicht als Bewegung seiner Außenwelt
interpretiert wird, Eine ähnliche. sogar quanti-
lizierbare Erklärung für dieses Phänomen wird
von seiten der Regelungstheorie geboten. welche
besagt. daß die optisch wahrgenommene Raum-
lage eines Gegenstandes eine Resultierende aus
Netzhautbild und der willentlich intendierten
Position des Auges darstellt.
Eine genauere Wiedergabe der noch hypothe-
tischen Erklürung des geschilderten Versuches
wurde in Details führen. welche für unsere Be-
trachtungen ohne wesentlichen Belang sind. Von
Bedeutung ist lediglich der Umstand. daß diese
Konstanzleistungen akzidentelle. dem Wechsel
unterworfene Wahrnehmungsbedingungen zu
kompensieren imstande sind. Diese Leistungen
vermögen Ordnung in die Vielzahl der auf uns
einstürmenden Sinnesdaten zu bringen. Sie ab-
strahieren aus vielen Einzelelementen die in
ihnen waltenden Gesetzlichkeiten, d. h. sie geben
uns Meldung über die Gesetzlichkeiten, und zwar
nicht eigentlich über die Sinnesdaten selbst und
noch weniger über das Verfahren. durch das sie
zu ihren Abstraktionen gelangen. So sind die
meisten Wahrnehmungstöuschungen Fehlleistungen
von Konstanzmechanismen. die durch unwahr-
scheinliche Reizsituationen angeregt korrigierend
funktionieren.
Über komplexe Gestaltwahrnehmungen. die den
bildenden Künstler im besonderen interessieren.
ist folgendes zu sagen: Wenn wir ein menschliches
Gesicht zum erstenmal sehen. so bleiben von der
Struktur dieser Gestalt nur gewisse Teile haften.
Bei verschiedenen Personen sind nun die Funktions-
eigenschaften der Gestaltswahrnehmung sehr ver-
schieden. So soll z. B. Kandinsky ein außer-
ordentliches Gedächtnis für Wahrnehmungen
besessen haben. Er soll imstande gewesen sein. bei
einer Prüfung über Volkswirtschaft gefragte
statistische Zahlen von dem inneren Bild. das er
davon besaß. einfach abzulesen. eine für den
Durchschnittsmenschen erstaunliche Eigenschaft,
die ihn als "Eidetiker" hohen Grades erkennen
lälit (nach A. Gehlen). Erst bei wiederholtem
Betrachten nimmt die wahrgenommene "Gestalt"
eine einigermaßen konstante Form an.
Bei verschiedenen Menschen werden die scheinbar
endgültigen Resultate ihrer wiederholten Wahr-
nehmungsakte ziemlich verschieden sein.
Sehr komplizierte Gestalten dürften vielleicht über-
haupt niemals eine endgültige Qualität der Kon-
figuration in unserer Wahrnehmung erreichen.
da bei jeder neuen Wiederholung der Wahrneh-
mung neue. bisher ungeworinene Elemente den