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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

] KUNST UND KULTUR [ 
WENN DIE TÄNZERIN TANZT. 
eladenen Gästen in Miethkes Kunstsalon zeigte sich eine Tänzerin, 
Fräulein Sachetto aus München. Als ich unterwegs war, ich hatte 
sie noch nicht gesehen, durfte ich alles mögliche erwarten. Ich durfte 
erwarten, daß das, was sie brachte, geeignet wäre, die landläufigen 
Begriffe vom schönen Tanze zu enttäuschen und zugleich zu über- 
treffen. Kein Kunsttanz und doch wäre ihr Tanz Kunst. Keine über' 
nommene Fertigkeit, keine Routine, nichts von Fußspitzentanz, keine 
Spur von Akrobatik. Sie tanzte sich selbst, mit passiver, leiden' 
schaftlicher Empfindung. Das Wesen ihres Tanzes wäre nicht das 
Erlernte, sondern Selbstdarstellung. Auch wenn sie von einem be- 
stimmten Thema ausginge, so ist es doch immer die Darstellung dessen, 
was ihrer Empfindung gemäß ist. Es ist darum ursprünglich und 
künstlerisch, schöne Form, die Rhythmus und Harmonie ist, wesens' 
verwandt mit allem, was rein aus gesteigertem menschlichem Empfinden 
geschöpft ist. Den Gedanken weiterzuspinnen, dachte ich, man könnte 
dasselbe sagen von den gefühlten Verhältnissen einer idealen Ar' 
chitektur, von dem Aufbau sublimer Worte und Gedanken, von 
einer edlen Geste oder einer edlen Tat, von der wundervollen Möglichkeit, 
Farbe zu empfinden und bildmäßig zu gestalten, oder das Empfundene 
in rhythmischen Tönen musikalisch auszudrücken. 
Alles hängt irgendwie zusammen, alles Ursprüngliche, Schöpferische, 
Künstlerische berührt sich in dem Empfindungsmäßigen als der gemein' 
samen Wurzel. Selbst das Genießen ist in dieser Art ein Schaffen; 
Kunst will nicht besprochen, sondern empfunden sein. 
Die Frage geht zunächst nicht nach dem höheren oder geringeren 
Grade von Fertigkeit — auch das Unfertige kann Kunst und insoferne 
fertig sein — sondern nach der Unmittelbarkeit und Innigkeit des 
menschlichen und empfindungsmäßigen Ausdrucks. Darum kann man 
japanische Kunst, griechische Antike und eine scheinbar unbeholfene 
gotische Skulptur oder ein Stück primitiver Volkskunst, wie alles, 
derselben Quelle entstammte Heutige in gleicher Weise lieben. 
Ich dachte an dieses und anderes unterwegs zur Tänzerin. Als ich sie 
gesehen hatte, war ich offen gestanden, ein wenig enttäuscht. Es war 
aber meine Schuld. Ich hätte nicht das Unmögliche erwarten dürfen. 
Sie hatte den besten Willen, und manches Schöne war ihr gelungen. 
Man konnte deshalb leicht über das Fehlende hinwegsehen. Der 
Abend hatte den Charakter einer Improvisation und ließ glücklicher' 
weise alles offen, Wunsch und Hoffnung. 
DIE TRAGISCHE MUSE. 
Bilder auf Seite 90—91. 
D rei Relief bilder aus glasiertem Steinzeug, das Mittelstück Melpomene, 
die beiden Seitenstücke die tragischen Chöre darstellend, wurden 
von Frau ELENA LUKSCH'MAKOWSKA für das neue Wiener Bürger- 
theater geschaffen. Sie sind ein besonderer Schmuck des neuen Baues, 
an dessen Stirn sie als Symbol des Wesens aufleuchten, dem das Haus 
gewidmet sein sollte. Leider stehen weder die Architektur noch der 
Geist dieses Theaters auf der künstlerischen Höhe dieses plastischen 
Schmucks. Ohne irgend eine historische Nachahmung zu suchen, sind 
die Reliefs aus dem Geist der tragischen Stimmung geschöpft; das all- 
gemein Menschliche dieser Empfindung ist in einer Form verkörpert, 
die namentlich im Hinblick auf Melpomene fast lokale Züge trägt, 
einen Einschlag der Lebensluft und örtlichen Überlieferung. Der 
Künstler, der aus dem Eigenen schöpft und sich persönlich ausdrückt, 
macht diese unsichtbaren Einwirkungen, die sein Wesen bestimmen, 
künstlerisch sichtbar und das ist, wie hier, von ganz erlesenem Reiz. 
Was ein modernes Wiener Bürgertheater sein sollte oder sein könnte, 
ist an diesen Plastiken offenbar, aber leider nur hier. 
ALMANACHE, KALENDER UND KATALOGE. 
er „INSEL'ALMANACH AUF DAS JAHR 1906“ gibt einen guten 
Überblick über die führenden Gedanken und Leitsätze der deutschen 
Buchkultur. Sehr beherzigenswerte Dinge sind da zu lesen über Buch- 
schmuck, Buchdruck und Bucheinband. Ich lese und schlage eine andere 
Stelle auf, da fällt der Almanach entzwei — so schlecht geheftet ist er. 
Das ist Schicksalstücke. Der Insel-Verlag hat die deutsche Buchkunst 
wiederbelebt, man braucht ihn nicht ermahnen, die Worte in Taten 
umzusetzen; daß aber just dem predigenden Sendapostel der kleine 
Sündenfall passieren mußte, ist doch ergötzlich, nicht? Es tut nichts, 
der „Insel-Almanach“ ist dennoch sehr hübsch. Er ist ein artiges Lese- 
und Bilderbuch mit erlesenem Inhalt. Den SIMPLIZISSIMUS-KALENDER 
(A. Langen, München) wegen seines witzigen Inhalts zu loben, ist schier 
überflüssig, er ist beliebt als ein fast Selbstverständliches und hoffent- 
lieh ist das auch von den Sammelausgaben „DER KÜNSTLER“, „DER 
PFAFFE“ und Thönys „VOM KADETTEN ZUM GENERAL“ aus dem 
Inhalt des abgelaufenen Jahrganges der Wochenschrift zu sagen, die 
als die schärfsten und gerechtesten künstlerischen Kritiken der heutigen 
Kultur, oder richtiger gesagt Kulturlosigkeit, Geltung haben, eine 
satirische Geschichtsklitterung, ein Zeitspiegel für Schimpf und Scherz, 
heilsam durch das befreiende Lachen, das er gewährt. Zwar nicht als 
Kalender oder Almanach, aber doch als Neujahrsgaben wollen sie in 
diesem Zusammenhang nicht vergessen sein. 
Dagegen ist der GOETHE-KALENDER AUF DAS JAHR 1906, von 
Otto Julius Bierbaum bei Theodor Weicher in Leipzig herausgegeben, 
ganz goetheisch. Als Kalender ist er ein Hausbuch und will Goethe als 
Lebendigen zeigen, einen Verkehr mit ihm vermitteln und allerlei Vor- 
bildliches offenbaren. Es ist ein gutes Beginnen. Ein Almanach und ein 
Kalender sind dazu da, Verheißungen und Herzenswünsche anzubringen. 
Alter, süßverlogener Sitte gemäß wollen sie alles in Liebe und 
Freundschaft verbinden, und dieser Kalender weckt die Ahnung 
wieder von den zierlichen entzückenden Almanachen vor etwa rund 
hundert Jahren, die in Bezug auf Ausstattung und Buchkultur für 
unsere verwahrloste Zeit vorbildlich werden. 
Aber am Ende, was heißt „in Goethe leben“? Die eigene Zeit nützen 
und das Beste aus ihr zu machen. Was an Goethes Geist heute fehlt, 
kann man im Anbeginn jedes Jahres an den üblichen Kalendern der 
Geschäftsleute und den Wunschkarten ersehen. Welchen erbärmlichen 
Schund die angesehensten Firmen und Buchdruckereien zu bieten 
wagen, ist unerhört. Einen wirklich künstlerischen KALENDER, VON 
DER MOSER'SCHULE gezeichnet, gibt die Wiener DRUCKEREI 
CH WA LA ihren Kunden. Aus dem Kalenderwust der letzten Jahre 
sind nur wenige ihrer künstlerischen Qualitäten wegen hervorzuheben, 
ich erinnere an den wirklich ausgezeichneten HOLZSCHNITTKALENDER 
des einstigen VER SACRUM der WIENER SECESSION. Heuer hat 
PROF. CZESCHKA einen schönen Kalender angefertigt, der in der 
WIENER WERKSTÄTTE vervielfältigt wurde, ebenso wie eine schöne 
NEUJAHRSKARTE desselben Künstlers, die von der Wiener Werk- 
Stätte ihren Arbeitern und Hausfreunden überreicht wurde. Die alte 
Sitte der Neujahrswunschkarten der Familien und der verschiedenen 
Gewerbeleute hatte früher eine gute Beziehung zur Kunst gehabt. 
Wir haben im Vorjahre den Lesern der „HOHEN WARTE“ eine Reihe 
solcher guten alten Wunschkarten gezeigt. Was heutzutage auf diesem 
Gebiete geleistet wird, ist ein Skandal von Geschmacklosigkeit. Es war 
darum sehr zeitgemäß, daß die Wiener Werkstätte auch in dieser Be- 
Ziehung ein künstlerisches Beispiel gibt. Familien, die Wunschkarten 
versenden, sollten diese wieder von einzelnen Künstlern als Holzschnitt, 
Radierung etc. entwerfen und ausführen lassen; künstlerisch wertvolle 
Wunschkarten sind immer eine Freude für den Empfänger; schlechte 
Wunschkarten sind eine Beleidigung und sollen zum Bruch der Freund- 
schaff führen. Das sollten sich auch die CAFETIERS merken, deren 
Neujahrsgaben an die Gäste immer erbärmlicher werden. In den 
Zwanzigerjahren überreichte der Cafetier einen kleinen entzückenden 
Kupferstich; die heutige Neujahrsgabe, Brieftaschen aus imitiertem 
Leder, mag ich nicht einmal meinem Diener weiterschenken. So wird Sitte 
zur Unsitte, die abgeschafft werden soll. Außer dem besagten Insel- 
Almanach weiß ich nur zwei Kataloge zu nennen, die zu rühmen sind. 
Es ist der VERLAGSKATALOG von EUGEN DIEDERICHS ZU JENA und 
der von S. FISCHERS VERLAG IN BERLIN. Sie enthalten ein gewähltes 
Stück moderner Literaturgeschichte; sie sind jedermann wärmstens zu 
empfehlen als Berater und Jahresregent der Hausbücherei. 
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