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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe I (1866 / 7)

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grnppen zusammen; die Fenster wurden einander iniiner niiber gerückt, das dazwischen 
liegende Mauerwerk wurde immer mehr verziert und in ein ganzes System gebracht. So ist 
nach und nach das sogenannte Masswerk der gothischen Kunst entstanden, dessen Aus- 
fiihrung im Vcrfalle der Gothik zu wunderlichen Coinbinationen geführt hat. - Ein weiteres 
wichtiges Element der gothischen Architektur sind die Windberge und Giebel, deren 
Aufgabe es ist, das Gebäude vor dem Winde zu bergen, und die Fialen, Thürine im 
Kleinen, als Abschluss der Pfeiler. An der Entwicklung der Blätter, wie sie sich in den 
Fialen gezeigt. lässt sich erkennen, wie die Gothik bei ihren Bildungen vollkommen natu- 
ralistisch zu Werke ging. Man hat Blätter der verschiedensten Pilanzen genommen nnd sie 
in passender iVeise verwendet. Der Gedanke der ersten Kreuzrose z. B. war der von Blüten- 
knos en. 
P Die meisten dieser Formen der Gothik sind gedacht in einem bestimmten Materiale, 
in hildsainem Werkstein. Aber auch sehr harter Stein, Terrscotta, Holz und Eisen wurden 
in eigenthiimlicher Weise verwendet und jene Formen in diesen Materialien entsprechend 
nmgebildet. 
Charakteristisch tiir die Gotbik ist ihr coneentrirtes Consh-nctionssystem. Sie ab- 
strahirt von der Mauer, auf deren Festigkeit das romanische Gewölbe beruht und legt ihr 
Hauptgewicht auf die Pfeiler; die gothische Mauer besteht fast nur aus Fenstern. 
Von den eingnngserwähutsn Anschauungen über die Entstehung der Gothik verdient 
die letztere, welche ihre Formen lediglich als eine symbolische Verherrlichung des christ- 
lichen Culuis betrachtet, schon ihrer Verbreitung wegen die griisste Beachtung. Religiöse 
Begeisterung einzig und allein vermag noch keine Kunstwerke zu schufen; bis zu einem 
gewissen Grade ist die Kunst stets unabhängig von religiösen Anschauungen und ist in 
diesem Bereiche vielmehr bedingt durch nationale und locale Verhältnisse. Beweis dessen 
ist der Umstand, dass die verschiedensten Völker und Zeiten in der verschiedensten Weise 
einer und derselben Religion ihre Kunstwerke gleichsam als Opfer dargebracht haben. 
Was religiös ist in der Gothik und den christlichen Geist in ihr zum Ausdrucke bringt, 
das ist das unwandelbare Streben nach Wahrheit, welches sich auch in den kleinsten 
Dingen kundgibt, der Ernst und die Keuschheit, welche das Reich ihrer Fonnen durch- 
ziehen und sodann die Grossartigkeit und Fülle der Kunstwerke an und für sich, welche 
dem Dienste des Allerhöchstcn geweiht wurden. Wenn in der Kunst Grosses geleistet 
werden soll, muss ein opferwilliger Geist in ganzen Corporstionen herrschen; es muss nicht 
jede selbstständig hervortreten wollen, sondern dein Ganzen sich unterordnen. In Folge 
dieser Erscheinung, welche wir in der Kunst des Mittelalters wahrnehmen, zeigt die daina- 
lige Kunst eine Entwicklung, wie sie bisher nicht dagewescn. In dieser Auffassung der 
Behandlung des Ganzen liegt das Entscheidende, dessbalb will der Redner such die Aus- 
drücke „abstrscte religiöse Kunst" und „nbstracte profane Kunst" nicht gelten lassen. 
Es gibt weder die eine, noch die andere. Die abstracten Formen sind für beide die gleichen. 
der Unterschied liegt nicht in den einzelnen Elementen der Kunst, sondern in dem Geiste 
und in der Art und Weise, wie dieselben zu einem Ganzen vereinigt sind. 
II. Nachdem der Sprecher in der ersten Vorlesung (abstrahirend von allen socialen 
und politischen Verhältnissen, lediglich auf die innern Momente gestützt) nachgewiesen 
hatte, wie die Kunst des Mittelalters im Geiste des Volkes wurzeltc und wie sie sich zur 
Kunst der antiken Welt verhalten, ging er im zweiten Vortrage zu der Beantwortung der 
Frage über, wer denn die Träger jener Kunst gewesen seien? 
Geineinigliuh bezeichnet man du 14. Jahrhundert als die Periode der Gothik. In 
dieser Zeit hat allerdings die Kunst des Mittelalters ihre höchste Entwicklung, ihren Cul- 
iiiinstionspunkt erreicht; die Periode der Gothik besprechend, müssen wir aber weiter 
zurückgehen, bis zu den ersten Stufen ihrer Ausbildung aus dem Rßmanismlls. 
Der Romanismus ist bekanntlich auf dem Gebiets der kirchlichen Kunst aus Italien 
zu uns herübergekommen. Neben den Ziigeu Carl's des Grossen sind die Wege des Handels 
die Wege der Kunst gewesen; in den grossen Handelsstßdten sind auch die meisten roma- 
nischen Kunstbauten zu linden. 
Eine so grossartige Entwicklung der romanischen Kunst auf fremdem Boden hätte 
nicht geschehen können ohne die kirchlichen Orden, welche sich der Kunstthätigkeit mit 
aller Kraft angenommen haben und einem einzigen grossen Ziele zustrebten. Wie die Archi- 
tektur, wurden auch ihre Schwesterkiinste, die Malerei und Bildnerei iii den Klöstern ge- 
pflegt und entwickelt, und ihre Leistungen .wsren um so cigenthümlicher, als die Empfindung 
des Künstlers bei diesen Kunstaweigeu viel directer auf- die NVerke massgebend einwirkt. 
Während daher die Architektur des Mittelalters im Anschlusse an die Kunstweise vergan- 
gener Jahrhunderte, aber mehr selbstständig sich entwickelte, haben die Schwesterkiinste, 
Malerei und Bildnerei, lediglich in den religiösen Ideen ihre Anregung gefunden. Auf diese 
Momente, welche auf die Entstehung der Kunstwerke des Mittelalters massgebend eingewirkt 
haben, muss bei der Beurtheilung der Kunstwerke Jener Zeit Rücksicht genommen werden. 
Jeder, der einmal die geweihten Mauern eines Klosters aus jener Zeit betreten, wird ergriden
	        
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