möglich war, dass jenes Frühere, das man sich nunmehr zum Vorbild nahm,
mit dem eigenen verbesserungsbedürftigen nächstverwandt gewesen
ist. Der normale Entwicklungsgang der Kunst erlitt durch dieses Dazwischen.
bringen anderer, früherer Formen keineswegs eine gewaltsame Störung
oder Unterbrechung; man wurde sich im ersten Augenblicke gar nicht
bewusst, dass man nun in der That in eine neue Periode fruchtbaren
eigenen Weiterschatfens eingelenkt hatte; dieses Bewusstsein stellte sich
erst allmälig ein, als die nun wieder für höhere, schöpferische Aufgaben
leistungsfähig gewordene Kunst sich dazu anschickte, die seit der Antike
sehr veränderten geistigen Ziele ihrer Zeit zu verkörpern. So wie im Norden
auf die durch die karolingische Renaissance gegebenen Anregungen die
Entwicklung der romanischen Kunst, d. h. einer selbständigen Fortbildung
der antik-römischen Kunst gefolgt war, so hat sich eine gleich selbständige
Fortbildung auch an die toscanische Protorenaissance geknüpft; ja diese
wäre zu noch viel entschiedenercn Resultaten gelangt, wenn nicht fremde
Einflüsse, die wir sogleich kennen lernen werden, dazwischen gekommen
wären.
Nun kämen wir in der chronologischen Aufzählung der Renaissancen
zu der vRenaissanceu schlechtweg, zu der italienischen Renaissance des
15. Jahrhunderts. Aber gerade um das Wesen dieser Renaissance, sowie
der beiden vorangegangenen, die wir schon betrachtet haben, recht aus
dem Grunde verstehen zu lernen, wird es sich empfehlen, wenigstens
flüchtig diejenige Kunstweise zu berühren, die in Italien zwischen der
toscanischen Protorenaissance des n. und 12. Jahrhunderts und der
eigentlichen Renaissance des 15. Jahrhunderts Eingang gefunden hatte-
Es ist dies die gothische Kunstweise. _
Der gothische Stil ist ein Product der nordischen Kunstentwicklung.
Und zwar ist er im Norden im Verlaufe der normalen Entwicklung ge-
worden. In Frankreich sind die ersten Denkmäler entstanden, an denen
der gothische Baustil in seinen wesentlichsten Eigenthümlichkeiten voll-
endet entgegentritt. Aber auch in Deutschland lag im 13. Jahrhundert
alles dazu bereit, um dem gothischen Stil zum Durchbruclrzu verhelfen.
Von einer schroffen Uebertragung der Gothik aus Frankreich nach
Deutschland kann keine Rede sein. Der deutsche spätromanische Stil ent-
hielt bereits alle Elemente, aus denen sich der französich-gothische
zusammensetzte: die Franzosen nahmen blos sozusagen eine Lösung
vorweg, auf welche die Deutschen selbst losstrebten.
Ganz anders verhält es sich mit der Uebertragung der Gothik nach
Italien. Zwar mag auch hier, namentlich in Oberitalien, vieles bereit
gelegen haben, um der Gothik Eingang zu verschaffen. Aber mindestens
für Mittelitalien, für Rom und Toscana, bedeutete die nordische Gothik
doch im Allgemeinen nichts anderes als eine Invasion. Die Gothik gerieth
in Mode und die aufstrebende toscanische Kunst konnte sich ihr schon
deshalb nicht verschließen, weil die Gothik alle möglichen weiten und