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Volltext: Alte und Moderne Kunst XVI (1971 / Heft 119)

Hans Koepf 
DER STRASSBURGER 
FASSADENRISS NR. 289 DER 
WIENER SAMMLUNGEN 
Unter den Hunderten von gotischen Planrissen 
der Wiener Sammlungen nimmt der Straßbur- 
ger Fassadenriß Nr. 289' entwidtlungsgeschidit- 
lich eine ganz besonders widitige Stellung ein. 
Ohne Zweifel geht er auf den berühmten Riß 
B im Straßburger Frauenhaus zurück, den man 
dem sogenannten „Bischofsmeistef („Liditen- 
berg-Meister") zusdireibt, der das Grabmal des 
Bischofs von Lichtenberg im Straßburger Mün- 
ster schuf. Über die Bedeutung des Risses B für 
die Bauführung der Straßburger Westfassade 
gibt es schon zahlreiche Untersuchungen, die 
nachweisen, daß die Ausführung in Straßburg 
dem Riß B nur bis in die Höhe. der Portal- 
wimperge folgt, darüber jedodi eine Planbear- 
beitung einsetzt, die auf den Meister des Ris- 
ses C zurückgeht, dessen Originalzeidinung 
zwar nicht mehr vorhanden, aber durch eine 
Kopie des 16. Jahrhunderts (Nürnberg, Ger- 
man. Nat.-Mus.) gesichert ist. Auch dieser Riß 
C wurde nidit zur Gänze effektuiert, da be- 
reits im zweiten Turmgeschoß Modifikationen 
einsetzen, die im dritten Geschoß noch stärker 
in Erscheinung treten, ehe die sogenannten 
„Juncker von Prag" ihren für damalige Bau- 
gewohnheiten ganz ungewöhnlichen Aufbau 
über der Fensterrose und so anstelle der einst 
geplanten Zweiturmfassade eine Schildwand er- 
richteten. 
Nidit uninteressant ist für die frühe Bauge- 
sdridite der Straßburger Fassade, daß es im 
Straßburger Frauenhaus noch einen Riß B' gibt, 
der das Maßwerk des Risses B auf den Riß A 
zu übertragen versucht. Riß A entsprach etwa 
der Höhen- und Breitendisposition des bereits 
stehenden Langhauses, während Riß B vor al- 
lem in den Höhenabmessungen die vorhande- 
nen Gegebenheiten völlig unberüdtsichtigt läßt, 
also in mancher Hinsicht utopischen Zielsetzun- 
gen folgt. Man kann dies allein sdion daran er- 
kennen, daß die Rose B genau dort beginnt, 
wo die Rose A, die etwa dem Larighausquer- 
schnitt entsprochen hätte, ihren Scheitelpunkt 
erreichte. Rose B wäre also über dem Mittel- 
schiffgewölbe des vorhandenen Langhauses ge- 
legen und eine reine „Fassadenrose" geworden. 
Es ist nun der Forschung nicht verborgen ge- 
blieben, daß Riß B beim Ansetzen des Ab- 
schlußbogens des Fensters im dritten Turmge- 
schoß angestüdtt ist, was bei mittelalterlichen 
Planrissen nicht selten vorkommt, da Perga- 
mentblätter eben nur eine bestimmte Größe be- 
saßen. 
Noch nicht beachtet wurde, daß die Kreuzblu- 
men der Fialen oberhalb der Fensterrose genau 
den Blattrand berühren, während der Sodrel 
auf den Millimeter genau den unteren Blatt- 
rand berührte, jedoch beim vorhandenen Riß 
durch mechanische Beschädigung etwas abge- 
stoßen ist. Die Blattgröße wurde also bis zum 
äußersten ausgenutzt, was der beste Beweis da- 
für ist, daß auch eng zusammengehörende Plan- 
risse nie in demselben Maßstab gezeidinet sind. 
Während bisher darauf hingewiesen wurde, daß 
die Profile des oberen Blattstüdtes nid-it genau 
mit den entsprechenden Profilen des unteren 
1A 
Blattes korrespondieren und auch die Ausfüh- 
rung der oberen Teile flüchtiger und zudem 
konstruktiv problematisdi seien, so kann man 
noch mit anderen Argumenten beweisen, daß 
der Zeichner des unteren Teiles des Risses B 
(„Lichtenberg-Meister") wohl nie daran dachte, 
eine Turmfassade vollständig zu planen, da 
er SlCll mit seiner Fialengalerie nie so „nach der 
Dedte zu stredten" bemüht hätte, falls von 
vornherein festgestanden hätte, daß die Zeidi- 
nung nach oben verlängert werden sollte. 
Wollte man dies als Zufall ansehen, so kann 
dies leicht dadurdi widerlegt werden, daß audi 
die oberste Spitzpyramide des Turmes auf dem 
oberen Blatt nicht ganz untergebracht werden 
konnte und kurz vor ihrem Abschluß plötzlich 
abbridit, da sidi die Anfügung eines dritten 
Blattes nicht mehr gelohnt hätte. Wäre also von 
Anfang an festgestanden, daß zwei Blätter die- 
ser Größenordnung zur Verfügung standen, so 
hätte man nur den Maßstab um etwa V12 ver- 
kleinern müssen, um die Zeid-inung zur Gänze 
ausführen zu können. 
Daß die Fortsetzung dieses bedeutendsten Ris- 
ses der deutschen Gotik bis zur Turmendigung 
ursprünglich nicht geplant war, dürfte durch 
diese Überlegung gesichert sein. Da die oberen 
Teile zeichnerisch ängstlich und konstruktiv un- 
sicher ausgefallen sind, drängt sich direkt der 
Eindruck auf, daß der Straßburger Riß B auch 
von zwei versdiiedenen Meistern stammt, wo- 
bei der „Vollender" seinem Vorgänger leider 
nicht kongenial war. Diese bauhistorisch bedeut- 
same Feststellung wird aber erst dann voll ver- 
ständlich, wenn man die Eigenart des Wiener 
Risses 289 klar gegen den Straßburger Riß B 
abgrenzt. 
DIE STELLUNG DES WIENER RISSES 289 
ZUM STRASSBURGER RISS B 
Ohne Zweifel ist der Wiener Riß 289 eine 
Planbearbeitung des Straßburger Risses B und 
später als dieser entstanden. Im Portalsektor 
ist die Übereinstimmung beinahe vollständig. 
Lediglich über den Ardiivolten des Seitenpor- 
tals ist hinter dem Wimperg deutlich ein bis 
zur Mittelachse flach ansteigender Laufgang 
eingezeichnet. 
Im zweiten Geschoß fällt vor allem auf, daß 
die Rose beim Wiener Riß vollständig ausge- 
spart ist, was nicht unbedingt ein Indiz für die 
Tatsache sein muß, daß die Rose zur Zeit der 
Aufzeichnung des Risses bereits vollendet ge- 
wesen sein muß. Der Zeidiner des Wiener Ris- 
ses wollte eher andeuten, daß ihm die Rose des 
Risses B in der vorliegenden Form akzeptabel 
erschien, nicht jedodi die Verbindung der Bal- 
dachingalerie des folgenden Geschosses mit dem 
oberen Halbkreis der Fensterrose. Diese Ver- 
bindung ist tatsädilid-i etwas problematisch, da 
die Baldachinsäulen mit ihrem Sockel etwas 
unstatisch auf dem Abschlußbogen der Rose 
„rutschen". 
Genau dasselbe Symptom finden wir übrigens 
auch beim Wimperg des neben der Rose liegen- 
den Turmfensters. Der Zeichner des unteren 
Teiles von Riß B füllt den Wimperg lediglich 
mit senkrechten Stäben, die unten auf dem 
Spitzbogengewände aufruhen. Diese wenig 
phantasievolle und für gotische Konstruktio- 
nen beinahe unmögliche Lösung entspridit üb- 
rigens durdiaus der Methodik, die Baldachin- 
säulen auf die Fensterrose herabzuführei 
erste selbständige Regung des Zeichne 
Wiener Risses 289 war eine völlige Neupi 
des Turmfensterwimperges. Er ordnet 
drei vom Zentrum in die Giebelecken wt 
Fischblasen an, während er den Wimper 
lich wie die Portale durdi ansteigende l 
reihen krönte. Es braucht wohl nicht bet 
werden, daß diese Lösung formal weit 
ist als der Entwurf des Zeichners des Rissv 
Hinter diesem Fensterwimperg läuft df 
schlußgalerie des zweiten Turmgeschosses 
- beim Riß B lediglich durch zwei I} 
striche schematisch angezeigt -, hier al 
Maßstab reduziert und auch oberhalb de 
durch Dreiblattmaßwerk stark akzentuie 
Gegensatz zum Zeichner des Risses B ha 
Planfertiger des Wiener Risses 289 eine 
sprodiene Vorliebe für horizontale Glie 
gen. 
Überaus unterschiedlich ist auch auf den 
Rissen die Lösung der Maßwerkform 
dritten Turmgesdmß, wobei hier 3lll 
sdion die Problematik mitspricht, ob die 
Blatthälfte des Risses B tatsäd-ilich vor 
selben Planzeichner stammt, der die 
Blatthälfte konzipierte. 
Bei Riß B sind die Maßwerkblenden der." 
pfeiler auffallenderweise verschieden 
führt, während sie der Wiener Riß ganz 
richtig gleich darstellt. Die Blenden zu 
Seiten des Turmfensters aber zeigen wiei 
drei zentrierten Fischblasen, die wir beir 
ner Riß beim Wimperggiebel des darui 
genden Geschosses festgestellt haben. 
Insgesamt ist der obere Absdiluß des 
Turmgesdnosses bei Riß B unausgewogen 
anders beim Wiener Riß! Hier sind dic 
den vom Mittelfenster durch bis zur 
schlußgesims hochführende Vertikalbegr 
gen getrennt, während in die Zwickel Sec 
eingefügt sind. 
Beim Straßburger Riß B erscheint das O 
nebst seinem Aufsatz nur skizzenhaft ui 
reift und konstruktiv ungelöst, wogege 
Wiener Riß gerade diese Teile mit äu 
Akribie behandelt sind. Pointiert fort 
kann man feststellen, daß das Sdaweri 
der Bedeutung des Wiener Risses dort e 
wo der Straßburger Riß B keine klare l 
mehr zu machen hat. Gerade durch diese 
ptom wird aber die Stellung der beide: 
zueinander betont. Der Zeichner des 
Risses erkannte, daß der skizzenhaft 
schlossene Straßburger Riß in seinen 
Teilen unbefriedigend war: Er wollte 
hier Klarheit schaffen. Paradox ist bei 
Sachverhalt nur, daß der Zeichner des 
Risses bei seinen Präzisierungen noch we 
Probleme und Ungereimtheiten schuf 1 
Zeichner der oberen Hälfte des Stral 
Risses B. 
DIE PROBLEMATIK DES OBEREN 
ABSCHLUSSES DES STRASSBURGE] 
RISSES B 
Die oberen Teile des Risses B zeigen i: 
dien Teilen deutlidi utopische Züge. I: 
satzstelle des zweiten Pergaments begir 
nig oberhalb des Kämpfers des Fensv 
dritten Turrngeschoß. Da das zentrale 
werkrosenrnotiv dieses Fensters mit Au
	        
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