Hans Koepf
DER STRASSBURGER
FASSADENRISS NR. 289 DER
WIENER SAMMLUNGEN
Unter den Hunderten von gotischen Planrissen
der Wiener Sammlungen nimmt der Straßbur-
ger Fassadenriß Nr. 289' entwidtlungsgeschidit-
lich eine ganz besonders widitige Stellung ein.
Ohne Zweifel geht er auf den berühmten Riß
B im Straßburger Frauenhaus zurück, den man
dem sogenannten „Bischofsmeistef („Liditen-
berg-Meister") zusdireibt, der das Grabmal des
Bischofs von Lichtenberg im Straßburger Mün-
ster schuf. Über die Bedeutung des Risses B für
die Bauführung der Straßburger Westfassade
gibt es schon zahlreiche Untersuchungen, die
nachweisen, daß die Ausführung in Straßburg
dem Riß B nur bis in die Höhe. der Portal-
wimperge folgt, darüber jedodi eine Planbear-
beitung einsetzt, die auf den Meister des Ris-
ses C zurückgeht, dessen Originalzeidinung
zwar nicht mehr vorhanden, aber durch eine
Kopie des 16. Jahrhunderts (Nürnberg, Ger-
man. Nat.-Mus.) gesichert ist. Auch dieser Riß
C wurde nidit zur Gänze effektuiert, da be-
reits im zweiten Turmgeschoß Modifikationen
einsetzen, die im dritten Geschoß noch stärker
in Erscheinung treten, ehe die sogenannten
„Juncker von Prag" ihren für damalige Bau-
gewohnheiten ganz ungewöhnlichen Aufbau
über der Fensterrose und so anstelle der einst
geplanten Zweiturmfassade eine Schildwand er-
richteten.
Nidit uninteressant ist für die frühe Bauge-
sdridite der Straßburger Fassade, daß es im
Straßburger Frauenhaus noch einen Riß B' gibt,
der das Maßwerk des Risses B auf den Riß A
zu übertragen versucht. Riß A entsprach etwa
der Höhen- und Breitendisposition des bereits
stehenden Langhauses, während Riß B vor al-
lem in den Höhenabmessungen die vorhande-
nen Gegebenheiten völlig unberüdtsichtigt läßt,
also in mancher Hinsicht utopischen Zielsetzun-
gen folgt. Man kann dies allein sdion daran er-
kennen, daß die Rose B genau dort beginnt,
wo die Rose A, die etwa dem Larighausquer-
schnitt entsprochen hätte, ihren Scheitelpunkt
erreichte. Rose B wäre also über dem Mittel-
schiffgewölbe des vorhandenen Langhauses ge-
legen und eine reine „Fassadenrose" geworden.
Es ist nun der Forschung nicht verborgen ge-
blieben, daß Riß B beim Ansetzen des Ab-
schlußbogens des Fensters im dritten Turmge-
schoß angestüdtt ist, was bei mittelalterlichen
Planrissen nicht selten vorkommt, da Perga-
mentblätter eben nur eine bestimmte Größe be-
saßen.
Noch nicht beachtet wurde, daß die Kreuzblu-
men der Fialen oberhalb der Fensterrose genau
den Blattrand berühren, während der Sodrel
auf den Millimeter genau den unteren Blatt-
rand berührte, jedoch beim vorhandenen Riß
durch mechanische Beschädigung etwas abge-
stoßen ist. Die Blattgröße wurde also bis zum
äußersten ausgenutzt, was der beste Beweis da-
für ist, daß auch eng zusammengehörende Plan-
risse nie in demselben Maßstab gezeidinet sind.
Während bisher darauf hingewiesen wurde, daß
die Profile des oberen Blattstüdtes nid-it genau
mit den entsprechenden Profilen des unteren
1A
Blattes korrespondieren und auch die Ausfüh-
rung der oberen Teile flüchtiger und zudem
konstruktiv problematisdi seien, so kann man
noch mit anderen Argumenten beweisen, daß
der Zeichner des unteren Teiles des Risses B
(„Lichtenberg-Meister") wohl nie daran dachte,
eine Turmfassade vollständig zu planen, da
er SlCll mit seiner Fialengalerie nie so „nach der
Dedte zu stredten" bemüht hätte, falls von
vornherein festgestanden hätte, daß die Zeidi-
nung nach oben verlängert werden sollte.
Wollte man dies als Zufall ansehen, so kann
dies leicht dadurdi widerlegt werden, daß audi
die oberste Spitzpyramide des Turmes auf dem
oberen Blatt nicht ganz untergebracht werden
konnte und kurz vor ihrem Abschluß plötzlich
abbridit, da sidi die Anfügung eines dritten
Blattes nicht mehr gelohnt hätte. Wäre also von
Anfang an festgestanden, daß zwei Blätter die-
ser Größenordnung zur Verfügung standen, so
hätte man nur den Maßstab um etwa V12 ver-
kleinern müssen, um die Zeid-inung zur Gänze
ausführen zu können.
Daß die Fortsetzung dieses bedeutendsten Ris-
ses der deutschen Gotik bis zur Turmendigung
ursprünglich nicht geplant war, dürfte durch
diese Überlegung gesichert sein. Da die oberen
Teile zeichnerisch ängstlich und konstruktiv un-
sicher ausgefallen sind, drängt sich direkt der
Eindruck auf, daß der Straßburger Riß B auch
von zwei versdiiedenen Meistern stammt, wo-
bei der „Vollender" seinem Vorgänger leider
nicht kongenial war. Diese bauhistorisch bedeut-
same Feststellung wird aber erst dann voll ver-
ständlich, wenn man die Eigenart des Wiener
Risses 289 klar gegen den Straßburger Riß B
abgrenzt.
DIE STELLUNG DES WIENER RISSES 289
ZUM STRASSBURGER RISS B
Ohne Zweifel ist der Wiener Riß 289 eine
Planbearbeitung des Straßburger Risses B und
später als dieser entstanden. Im Portalsektor
ist die Übereinstimmung beinahe vollständig.
Lediglich über den Ardiivolten des Seitenpor-
tals ist hinter dem Wimperg deutlich ein bis
zur Mittelachse flach ansteigender Laufgang
eingezeichnet.
Im zweiten Geschoß fällt vor allem auf, daß
die Rose beim Wiener Riß vollständig ausge-
spart ist, was nicht unbedingt ein Indiz für die
Tatsache sein muß, daß die Rose zur Zeit der
Aufzeichnung des Risses bereits vollendet ge-
wesen sein muß. Der Zeidiner des Wiener Ris-
ses wollte eher andeuten, daß ihm die Rose des
Risses B in der vorliegenden Form akzeptabel
erschien, nicht jedodi die Verbindung der Bal-
dachingalerie des folgenden Geschosses mit dem
oberen Halbkreis der Fensterrose. Diese Ver-
bindung ist tatsädilid-i etwas problematisch, da
die Baldachinsäulen mit ihrem Sockel etwas
unstatisch auf dem Abschlußbogen der Rose
„rutschen".
Genau dasselbe Symptom finden wir übrigens
auch beim Wimperg des neben der Rose liegen-
den Turmfensters. Der Zeichner des unteren
Teiles von Riß B füllt den Wimperg lediglich
mit senkrechten Stäben, die unten auf dem
Spitzbogengewände aufruhen. Diese wenig
phantasievolle und für gotische Konstruktio-
nen beinahe unmögliche Lösung entspridit üb-
rigens durdiaus der Methodik, die Baldachin-
säulen auf die Fensterrose herabzuführei
erste selbständige Regung des Zeichne
Wiener Risses 289 war eine völlige Neupi
des Turmfensterwimperges. Er ordnet
drei vom Zentrum in die Giebelecken wt
Fischblasen an, während er den Wimper
lich wie die Portale durdi ansteigende l
reihen krönte. Es braucht wohl nicht bet
werden, daß diese Lösung formal weit
ist als der Entwurf des Zeichners des Rissv
Hinter diesem Fensterwimperg läuft df
schlußgalerie des zweiten Turmgeschosses
- beim Riß B lediglich durch zwei I}
striche schematisch angezeigt -, hier al
Maßstab reduziert und auch oberhalb de
durch Dreiblattmaßwerk stark akzentuie
Gegensatz zum Zeichner des Risses B ha
Planfertiger des Wiener Risses 289 eine
sprodiene Vorliebe für horizontale Glie
gen.
Überaus unterschiedlich ist auch auf den
Rissen die Lösung der Maßwerkform
dritten Turmgesdmß, wobei hier 3lll
sdion die Problematik mitspricht, ob die
Blatthälfte des Risses B tatsäd-ilich vor
selben Planzeichner stammt, der die
Blatthälfte konzipierte.
Bei Riß B sind die Maßwerkblenden der."
pfeiler auffallenderweise verschieden
führt, während sie der Wiener Riß ganz
richtig gleich darstellt. Die Blenden zu
Seiten des Turmfensters aber zeigen wiei
drei zentrierten Fischblasen, die wir beir
ner Riß beim Wimperggiebel des darui
genden Geschosses festgestellt haben.
Insgesamt ist der obere Absdiluß des
Turmgesdnosses bei Riß B unausgewogen
anders beim Wiener Riß! Hier sind dic
den vom Mittelfenster durch bis zur
schlußgesims hochführende Vertikalbegr
gen getrennt, während in die Zwickel Sec
eingefügt sind.
Beim Straßburger Riß B erscheint das O
nebst seinem Aufsatz nur skizzenhaft ui
reift und konstruktiv ungelöst, wogege
Wiener Riß gerade diese Teile mit äu
Akribie behandelt sind. Pointiert fort
kann man feststellen, daß das Sdaweri
der Bedeutung des Wiener Risses dort e
wo der Straßburger Riß B keine klare l
mehr zu machen hat. Gerade durch diese
ptom wird aber die Stellung der beide:
zueinander betont. Der Zeichner des
Risses erkannte, daß der skizzenhaft
schlossene Straßburger Riß in seinen
Teilen unbefriedigend war: Er wollte
hier Klarheit schaffen. Paradox ist bei
Sachverhalt nur, daß der Zeichner des
Risses bei seinen Präzisierungen noch we
Probleme und Ungereimtheiten schuf 1
Zeichner der oberen Hälfte des Stral
Risses B.
DIE PROBLEMATIK DES OBEREN
ABSCHLUSSES DES STRASSBURGE]
RISSES B
Die oberen Teile des Risses B zeigen i:
dien Teilen deutlidi utopische Züge. I:
satzstelle des zweiten Pergaments begir
nig oberhalb des Kämpfers des Fensv
dritten Turrngeschoß. Da das zentrale
werkrosenrnotiv dieses Fensters mit Au