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Volltext: Monatszeitschrift VIII (1905 / Heft 11)

und Besitz, nicht aber wahre Kultur die tonangebenden Elemente geworden 
sind. Nie hat das zweckwidrige Entleihen oder mindestens das „Nachempfin- 
den" von Stilformen vergangener Epochen in gleichem Maße geblüht als 
zur Zeit der Entstehung jener unheimlichen Besitzesziffern, wie sie für die 
letzten hundert Jahre in immer gesteigerteren Verhältnissen die Welt be- 
herrschen: kulturfeindlich, seelenverderbend. Genießt doch unter diesem Ein- 
fluß jede Kraft, heiße sie wie sie wolle, erst dann Ansehen, wenn sie „kapi- 
talisierbar" ist. Das wirklich künstlerische Element muß an innerlichem 
Werte sinken, wird das Geschaffene nach rein materiellen Gesichtspunkten 
bemessen. Da nun nicht jeder in der Lage ist, große Summen für material- 
echte Arbeit zu verausgaben, die weitaus meisten dagegen es für eine 
Schande halten, sich selbst und ihre Umgebung in einfachem Gewande zu 
zeigen, so wird nach Ersatzmitteln gegriffen, die nur dem Scheine dienen. 
Das konstruktive Element in guter Durchbildung zu zeigen, ist ein in völligem 
Verfall begriffener Grundsatz. Das sachlich notwendige Moment tritt zurück 
gegenüber der Maskerade. 
Diese überall sich vordrängende Sucht, Unwahres zu Ehren zu bringen, 
beherrscht den maßgebendsten Faktor des sozialen Lebens, das Wohnen, 
die bauliche Arbeit in erster Linie, auf dem Kontinent wenigstens. In Eng- 
land stehen die diesbezüglichen Ansichten auf einem ungleich viel höherem 
Entwicklungspunkte als in Deutschland beispielsweise. Diese Mißstände 
legen Zeugnis ab von der Armseligkeit, innerhalb deren sich die modernen 
Kulturforderungen bewegen. Das Verständnis für die riesige Mannigfaltigkeit 
des Ausdrucks einer und derselben Funktion, wie sie in der Natur sich doku- 
mentiert, fängt erst an, wieder in seiner ganzen Wichtigkeit verstanden zu 
werden, freilich nicht überall, und manchenorts am wenigsten von denen, die 
auf gesetzgeberischem Wege Dinge zu regulieren sich anschicken, welche 
in erster Linie Gefühlsangelegenheit sind. Auf mächtigen Gebieten indes 
herrscht in dieser Richtung noch der schlimmste Stillstand oder eine, auf 
niedrigste Instinkte gestützte Abneigung gegen alles, was raschem Erträgnis 
hindernd im Wege steht. Die sachlich nicht zutreffende Lösung bekommt, 
um ihre Schwächen zu decken, Fanfarenbläser in pompösen Gewändern zu- 
gesellt. Ihr Aussehen, ihr Aufputz soll die Blöße decken. So pappt man vor 
die riesigen Bahnhofshallen, die dem modernen Leben und seiner Entwick- 
lung gelten sollten, ein Sammelsurium von Barockfragmenten, hilft irgendwo 
mit einer Kuppel nach, die „Silhouette macht" und im übrigen für das Wesen 
der Sache bedeutungslos bleibt, oder man probierfs mit Palastmotiven, die 
sich, sei's gut, sei's schlecht, ein Strecken oder Zusammenziehen gefallen 
lassen müssen. 
In Nürnberg hat man kürzlich einen „gotischen" Bahnhof abgebrochen 
und durch ein Gebäude in den Stilformen des XVIII. Jahrhunderts ersetzt. 
die mit dem Eisenbahnwesen etwa die gleichen Berührungspunkte haben 
wie Erwin von Steinbachs oder irgend eines anderen Meisters Tätigkeit mit 
derjenigen eines Billettschalterbeamten. Woher soll die Urteilsfähigkeit des
	        
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