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Aus allem dPln erhellt, dass dinse Muster nicht etwa nur kunntgeschichtliclxen, son-
dern einen sehr hohen künstlerischen Wmh haben, und dass sie der heutigen Industrie,
welcher sie, namentlich mit Znziehung der Farbe, die mßnnigfnltigste Verwendung ge-
statten, als muatergilrige Vorbilder dienen können.
Vorlesungen im Museum.
(Fortsetzung m dem Min-Hefte.)
(Ilombmlmeistn-r Friedrich Schmidt über die Entwicklung der gothi-
echrln Architektur mit besonderer Rücksicht auf dle Klelnkünstc.) I. Wer die
Werke der Kunst des Mittelalters nur oberdächlich betrachtet, bemerkt der Redner eingangs-
weise, wird das innere Leben derselben nicht verstehen können. In einer Zeit, wo die
Uchung dieser Kunst ganz abhanden gekommen war, sind die wunderlichsten Anschauungen
über dieselbe aufgetaucht. Einige hielten die Formen der mittelalterlichen Architektur Fir
einen Ausduss kabbalistischer Geheimlehren, andere sahen darin Nachbildungen von Ele-
menten der Natur, und wieder andere haben jedem Thiinnchen, jeder Fiale u. dgl. eine
symbolische Bedeutung geben und aus jedem Stück das Messvverkes einen bestimmten
religiösen Sinn herauslesen wollen. Das Studium der Archäologie und der- alten Technik
hat in neuerer Zeit zu Resultaten geüihrt, welche von allen diesen Anschauungen ferneweg
abliegen.
Die Kunst des Mittelalters beruht in der That auf einem gänzlich geänderten Con-
structionssysteni; sie hat mit den Traditionen der Antike beinahe gänzlich gebrochen und
frei und selbstständig wieder hineingsgritfen in das Reich der Natur, um aus deren Ur-
steifen und unter dem Einiiusse einer vollständig umgewandelten menschlichen Gesellschaft
neue, den Bedingungen des Lebens entsprechende Formen zu schaffen.
Die antike Architektur und Kunst ist nach der Ansicht des Rednrrs auf ein be-
stimmtes Materiale, auf bestimmte klimatische Verhältnisse hasirt; in ihr hat die Entwick-
lung der abstracten Form wohl ihren hiichsten Triumph gefeiert.
Indem aber die Antike diesen Triumph gefeiert, indem sie sich zu bestimmten mu-
creten Formen entwickelt hat, schloss sie auch damit ab und entzog sich jedem ferneren
Einilusse des Materiales auf ihre Formentwicklung.
Hierin liegt denn auch noch heutzutage der elementare Unterschied der sich gegen-
über stehenden Hauptkunstrichtungen, da im Gegensatze zu dem Ebengesagten das Mittel:
alter bestrebt war, jedes Baumaterial in der ihm eigenthiirnlichen Weise zur künstlerischen
Verwerthung und Geltung zu bringen.
Die nächsten Erben griechischer Kunst, die Römer, habcn deren Formen zwar copirt,
aber nur als oberflächliche Decoratinn ihrer weiter gehenden Constructionsweisen benützt.
Die wahre Harmonie zwischen iiusserer Form und innerer Construction war damit schon
gebrochen. Nachdem in den Zeiten der Völkerwanderung tabula rasa gemacht worden war
mit den alten Kunstanschauungen, hat sich allmählich eine neue Auffassung der Baugegcn-
stände entwickelt. Der Wandel der Construction im Grossen und Ganzen hat sich zu allen
Zeiten am meisten an den Tempeln und Kirchen manifestirt. Während die römische Kunst-
weise in massiger plastischer Weise ihre Kunstwerke bildete, hat die romanische bereits
eine tiefeinschneidende Gliederung ihrer Bauwerke durchgeführt. Das Bestreben, die Bau-
werke in der Breite und Höhe auszudehnen, musste aus der Flächenbildung zur Pfeiler-
bildung führen. Damit wnr die Thatsache des sogenannten gothischen Stylcs geschaffen.
Gewisse Formen der Architektur haben sich durch alle Zeiten hindurch in der Haupt-
sache erhalten. Die Hauptelemente der Capitäl- und Basen-Bildung, der Gesirnse sind im
Wesentlichen gleichgeblieben. Die gothische Kunst hat das Materiale, das sie vorfnnd, üir
ihre Zwecke angewendet und einen neuen Einklang zwischen Material und Form herbeigeführt.
Ein eigenthiimliches Moment der Gethik ist die Einfiihruug der verschiedenen Mate-
rialien in diesen Baustyl. In der gothischen Kunst finden nebst Stein auch Holz und Eisen
in umfassender Weine Aufnahme, während friiher nur Stein und fir Decorationsgegenstände
Bronze in Anwendung gewesen war. ,
Der wichtigste Constructionstheil, der seit den ältesten Zeiten bei allen Gebäuden
angewendet wurde, ist die Säule. Die classische Kunst hat auf die Säule ihren Architrav
gesetzt, die römische Kunst den Rundbcgen, die gothische Kunst den Spitzbogen; der auf
die Säule gelegte Theil wirkt in jedem Falle auf die Form der Säule selbst bestimmend
zurück. - Neben den Säulen ist in der gothischen Architektin von besonderer Bedcutun
das Masswerk der Fenster. Die romanische Kunst kennt nur das vom Rundbogen
geschlossene Fenster: in dem Masse, als die Dimensionen der Bauten sich vergrösserten,
musste auch den Fcnstcrn eine veränderte Form gegeben werden. Man setzte ganze Fenster-