Nr. 3
Internationale Sammler- Zeitung
Seite 39
Am schlimmsten sieht es an der Nordfront aus, in Arras
und in Ypern. Von unseren Stellungen aus läßt sich nur fest
stellen, daß im Stadtbild .zu, Arras der schlanke, reichgegliederte
75 m hohe Beffroi verschwunden ist und daß in dem Bild von
Ypern der Beffroi der Hallen eine wesentlich veränderte
Silhouette aufweist, ohne Dach und mit Fehlen von zweien
der Ecktürmchen. Auch hier wie in Armentieres, wo gleichfalls
der Beffroi fallen mußte, ist diese hohe Beobachtungsstelle,
die dem Feind die bequeme Möglichkeit der Feststellung >
der Wirkung seiner und der feindlichen Artillerie gab, für unsere
Truppen gefährlich und totbringend gewesen und ihre Ver
nichtung mußte mit allen Mitteln angestrebt werden, so lange
die Gegner diese Städte zu ihren artilleristischen Stützpunkten
machten. Dabei sind in Arras an einem Tage nach französischen
Berichten 68 Granaten auf das Rathaus geworfen worden
und erst die 69. hat den Turm getroffen. Wenn auch der große
Platz mit seinen durchgehenden Arkaden äußerlich unverletzt
scheint, so hat das Rathaus schwer gelitten, die eine Hälfte
dieser reichen und malerischen Baugruppe aus dem Übergang
von der Spätgotik zur Renaissance ist völlig zerstört, von den
acht Achsen der gotischen Hauptfassadc stehen nur noch drei
aufrecht. Und in Ypern, um hier zuletzt auf den schmalen,
von dem Feinde noch gehaltenen Streifen des westlichen Belgiens
einzugehen, ist nach französischen Aufnahmen vom 5. De
zember über dem Riesenbau der gotischen Tuchhallen, die der
Graf Balduin IX. von Flandern im Jahre 1200 begonnen hatte,
das hohe steile Dach mit dem so charakteristischen alten Dach
stuhl abgebrannt. Der Beffroi hat in seiner Front eine tief
heruntergehendc Bresche und die lange Außenfront der Hallen
selbst ist an drei Stellen völlig durchgeschlagen. Das im rechten
Winkel an die Hallen anstoßende Renaissance-Rathaus ist
völlig zerstört und bis auf das Erdgeschoß zusammengebrochen.
Der spätgotische Turm der Kathedrale St: Martin hat gleich
falls sein Dach verloren. Von dem Museum, das. in der alten,
zweigibcligen Boucherie untergebracht war, steht nur noch die
Außenfront mit leeren Fensterhöhlen.. Dixmuiden, das von
unseren Truppen besetzt, aber von den Verbündeten dauernd
unter Feuer gehalten wird, ist eine große Ruinenstadt (von mir
jetzt nicht besichtigt). Die Kirche St. Nicolas ist zum größten
Ostgotisctie
Im Raffael-Saal des Kaiser Friedrich-Museums in
Berlin hat als Leihgabe aus Privatbesitz eine Sammlung
ostgotischer Altertümer Platz gefunden, die in Gräbern in
Südrußland gefunden worden sind.
Als die Ostgoten im Verlauf der Völkerwanderung an die
Nordküste des Schwarzen Meeres kamen, fanden sie dort ein
bosporanisches Reich. Das war eine Art Ostmark des antiken
Kulturgebietes, deren Kunst durch die Nachbarschaft der
Skythen beeinflußt erscheint. Es sind dort sehr schöne Gold
arbeiten ausgegraben worden, viele zeigen Szenen aus dem
Reitcrleben der barbarischen Nachbarn. (Im Anschluß an diese
Stücke hatte ein russischer Goldarbeiter jene berühmte Tiara des
Saitaphernes gefälscht, die vom Louvre erworben worden war.)
Während der kurzen Gotenherrschaft geschah nun dasselbe,
was sich in dieser Zeit auch in Europa vollzog. Das antike Hand
werk sank allmählich in Material und Arbeit, dafür drangen
neue Formelemente ein, die von den germanischen Eroberern
mitgebracht wurden. Dieser Prozeß führte an den Stellen,
an denen sich eine neue Macht stetig entwickelte — besonders
im Frankenlande — allmählich zu einem neuen Stil. Am Bosporus
war davon nicht die Rede. Es ist sehr schwierig, die Arbeiten,
die unter der Gotenherrschaft entstanden, von den früheren zu
unterscheiden, und das Mischvolk, das nach dem Westzug
der Goten zurückblieb, setzte die Übung nur kümmerlich mit
immer, geringerem Material und in immer gröberer Technik ,
Teile zerstört, auch in den Außenmauern, der phantastische,
bizarre, spätgotische Lettner, das Werk des Urban Taillebert,
der reichste unter diesen Lettneranlagen in ganz Belgien, ist
zusammengestürzt.
Es ist aber festzuhalten, daß bei diesen beklagenswerten
Zerstörungen überall eine unbedingte Notwendigkeit vorlag, daß
wir durch die Aufstellungen des Feindes, durch die Ausnützung
dieser Denkmäler, zumal der Türme für die Feuerleitung,
direkt gezwungen waren, die Bauten unter Feuer zu nehmen —
und sowohl an unserer flandrischen Front in den Orten bei und
vor Dixmuiden wie an der Aisnelinie und an der iothringi sehen
Front sind es umgekehrt jetzt die Franzosen und Engländer,
die sich ihrerseits gezwungen sehen, ihre eigenen Denkmäler
oder die der Verbündeten entzweizuschießen. In Bourgognc
nördlich von Reims ist die entzückende frühgotische Kirche
durch ein schweres Geschoß der Franzosen getroffen, worden,
das in das südliche Querschiff hineingefahren ist, die Nordwand
zerschlagen und in dem Innern eine gründliche Verwüstung
angerichtet hat. Und ebenso ist es die ehrwürdige Kirche
von Brimont, die von: der Südseite her durch französische
Geschosse schwer gelitten hat. An der Cote Lorraine müssen
die Franzosen jetzt das hochgelegene Bergdorf Hattonchätel
beschießen, in dem die Kirche mit ihrem leinen kleinen Kreuz
gang zuerst unter dem deutschen Bombardement gelitten habe.
Im Mittelschiff und im nördlichen Seitenschiff sind vier Ge-
wölbcjocl|e eingestürzt, aber der schöne, dem Ligicr Richier
zugeschricbene Renaissancewandaltar hinter dem neuen Hoch
altar ist unverletzt. Und in St. Mihiel, dem von uns gegen den
übermächtigen Feind mit solchem Heroismus gehaltenen äußer
sten Vorposten an der Maas, sind es wiederum die Franzosen,
die die Kirche St. Etienne beschossen haben und darin eines
der berühmtesten Denkmäler der französischen, man darf
sagen der ganzen nordischen Renaissanccplastik, die unver
gleichliche Grablegung Ligier Richiers, mit ihren dreizehn
lebensgroßen Figuren schwer beschädigten. Bei diesen beiden
kostbaren plastischen Hauptwerken der französischen Kunst
geschichte wird es jetzt die Aufgabe der deutschen Barbaren
sein, diese Denkmäler gegen die französischen Granaten zu
schützen.
Altertümer.
fort. Die weitere Entwicklung hat erst in Italien stattgefunden,
als Theodorich in Ravenna seinem Reich einen Mittelpunkt
schuf. Wenigstens sagt das Professor Götze, der Veranstalter
der Ausstellung. Möglich wäre ja auch, daß in Italien die Ent
stehung des Stiles von Ravenna sich auf Grund des römischen
Handwerks neu vollzogen hat.
Wie weit in Rußland eine ostgotische Kultur bestanden hat,
das bleibt doch recht zweifelhaft. Der. Einfluß ist liier vielleicht
nur der des Bestellers gewesen. Niemand wird sagen können,
ob wirklich gotische Handwerker diese Dinge gefertigt haben.
Deshalb ist es gewagt, sie in einem Obertitel schlechtweg als
,,frühgermanische Kunst" zu bezeichnen. Einen so bedeutsamen
Namen möchte man für Werke aufgehoben sehen, die eine be
stimmtere Eigenart und eine ganz andere Wichtigkeit haben.
Hier handelt es sich doch schließlich um Stücke, die mehr zum
Untergang des antiken Handwerks als zum Aufgang einer neuen
Kunst gehören. Ja, bei einem großen Teil ist nicht einmal mehr
beweisbar oder auch nur vorauszusetzen, daß sie auch nur
für Germanen gefertigt sind.
Das hindert nicht, daß die Sammlung ihr Interesse hat.
Diese ganze Übergangszeit ist nicht so bekannt, daß ihre Er
zeugnisse nicht verdienten, beachtet zu werden. Und neben
ziemlich kunstlosen Stücken sieht man auch recht viele, in
denen ein sehr gutes Gefühl mit einfachen Mitteln eine starke
Schmuckwirkung erreicht.