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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe XX (1885 / 232)

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Nicht ganz in derselben Weise vollzog sich jedoch dieser Process in 
den verschiedenen Ländern. Wie diese Entwickelung in Oesterreich und 
speciell in Wien vor sich ging, brauche ich nicht des Breiteren darzu- 
legen. Oft genug ist auch auf die einzelnen Factoren hingewiesen worden, 
welche es bewirkten, dass die Reform der Kunstindustrie hier früher 
zu Stande kam, als in Deutschland. Zweifellos hat unser Museum mit 
der Kunstgewerbeschule einen hervorragenden Antheil daran. Aber von 
jeher hat das lebendige Schaffen auf dem Gebiete der Kunst weit mehr 
Einfluss auf die Zeitgenossen ausgeübt, als die Doctrin, die nur langsam 
durch Schule und Literatur einzuwirken vermag. So war es denn für 
die Reform der Wiener Kunstindustrie von ganz außerordentlicher Be- 
deutung, dass sie zeitlich zusammenfiel mit einer Thätigkeit auf dem 
Gebieteder Baukunst, wie sie in Wien überhaupt noch niemals statt- 
gefunden hatte. Eine Reihe günstiger Umstände wirkte dahin, dass die 
hervorragendsten Baukünstler, welche Europa überhaupt aufzuweisen 
hatte, sich in Wien zusammenfanden und in die großen Aufgaben theilten, 
welche hier zu lösen waren. Unter dem Eindrucke der neu erstehenden 
Werke der Baukunst entwickelte sich eine Theilnahme für Kunstfragen 
im Allgemeinen, die man früher vergebens gesucht hätte. Das Bürger- 
thum von ehemals, nüchtern und anspruchslos in seinen Anforderungen 
an die Kunst, die Solidität weit höher schätzend als die Schönheit, vvon 
der man nichts hat", wie das Schlagwort damals lautete, änderte nach 
und nach seine Anschauungen. Die Sprache der Monumentalbauten eines 
Van der Nüll, Ferstel, Hansen, Schmidt und Anderer redete eben so laut 
und eindringlich, dass die Gleichgiltigkeit selbst der Stumpfsinnigen be- 
siegt wurde. Man kann den Einfluss dieser Bauwerke auf unser Volks- 
leben und das allgemeine Urtheil in Fragen der Kunst und Kunstindustrie 
nicht hoch genug anschlagen, und es ist kein Zweifel, dass die Privat- 
architektur nie und nimmer den kostspieligen Anforderungen einer künst- 
lerischen Durchbildung so weitgehende Concessionen gemacht hätte, 
wenn ihr nicht Monumentalbauten von solcher Großartigkeit zur Seite 
gestanden wären. Dieses Schritthalten unserer Privatarchitektur mit den 
öffentlichen Bauten lässt sich genau beobachten von den schmucklosen, 
nüchternen Zinskasernen am Kärntnerring bis zu den reich gegliederten 
und auf das luxuriöseste ausgestatteten Baucomplexen in der Nähe des 
Rathhauses. 
Wenn es überhaupt Mittel gibt, der gesammten Kunst die ihr ge- 
bührende Stellung im Culturstaate wieder zu erobern, so ist keines wirk- 
samer als dies, die Architektur rnit großartigen Aufgaben zu betrauen, 
und es wäre nicht allein eine schwere Schädigung der Kunst, sondern 
auch gegen die Interessen staatsmännischer Volkserziehung, bei der 
Ausführung solcher Aufträge auf halbem Wege stehen zu bleiben und 
Monumentalbauten als vollendet zu betrachten in dem Momente, als sie 
benützbar geworden sind. Die Wiener Monumentalbauten haben nach
	        
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