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Nicht ganz in derselben Weise vollzog sich jedoch dieser Process in
den verschiedenen Ländern. Wie diese Entwickelung in Oesterreich und
speciell in Wien vor sich ging, brauche ich nicht des Breiteren darzu-
legen. Oft genug ist auch auf die einzelnen Factoren hingewiesen worden,
welche es bewirkten, dass die Reform der Kunstindustrie hier früher
zu Stande kam, als in Deutschland. Zweifellos hat unser Museum mit
der Kunstgewerbeschule einen hervorragenden Antheil daran. Aber von
jeher hat das lebendige Schaffen auf dem Gebiete der Kunst weit mehr
Einfluss auf die Zeitgenossen ausgeübt, als die Doctrin, die nur langsam
durch Schule und Literatur einzuwirken vermag. So war es denn für
die Reform der Wiener Kunstindustrie von ganz außerordentlicher Be-
deutung, dass sie zeitlich zusammenfiel mit einer Thätigkeit auf dem
Gebieteder Baukunst, wie sie in Wien überhaupt noch niemals statt-
gefunden hatte. Eine Reihe günstiger Umstände wirkte dahin, dass die
hervorragendsten Baukünstler, welche Europa überhaupt aufzuweisen
hatte, sich in Wien zusammenfanden und in die großen Aufgaben theilten,
welche hier zu lösen waren. Unter dem Eindrucke der neu erstehenden
Werke der Baukunst entwickelte sich eine Theilnahme für Kunstfragen
im Allgemeinen, die man früher vergebens gesucht hätte. Das Bürger-
thum von ehemals, nüchtern und anspruchslos in seinen Anforderungen
an die Kunst, die Solidität weit höher schätzend als die Schönheit, vvon
der man nichts hat", wie das Schlagwort damals lautete, änderte nach
und nach seine Anschauungen. Die Sprache der Monumentalbauten eines
Van der Nüll, Ferstel, Hansen, Schmidt und Anderer redete eben so laut
und eindringlich, dass die Gleichgiltigkeit selbst der Stumpfsinnigen be-
siegt wurde. Man kann den Einfluss dieser Bauwerke auf unser Volks-
leben und das allgemeine Urtheil in Fragen der Kunst und Kunstindustrie
nicht hoch genug anschlagen, und es ist kein Zweifel, dass die Privat-
architektur nie und nimmer den kostspieligen Anforderungen einer künst-
lerischen Durchbildung so weitgehende Concessionen gemacht hätte,
wenn ihr nicht Monumentalbauten von solcher Großartigkeit zur Seite
gestanden wären. Dieses Schritthalten unserer Privatarchitektur mit den
öffentlichen Bauten lässt sich genau beobachten von den schmucklosen,
nüchternen Zinskasernen am Kärntnerring bis zu den reich gegliederten
und auf das luxuriöseste ausgestatteten Baucomplexen in der Nähe des
Rathhauses.
Wenn es überhaupt Mittel gibt, der gesammten Kunst die ihr ge-
bührende Stellung im Culturstaate wieder zu erobern, so ist keines wirk-
samer als dies, die Architektur rnit großartigen Aufgaben zu betrauen,
und es wäre nicht allein eine schwere Schädigung der Kunst, sondern
auch gegen die Interessen staatsmännischer Volkserziehung, bei der
Ausführung solcher Aufträge auf halbem Wege stehen zu bleiben und
Monumentalbauten als vollendet zu betrachten in dem Momente, als sie
benützbar geworden sind. Die Wiener Monumentalbauten haben nach