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stalten ist theilweise diesem Zuge der Bevölkerung zuzuschreiben - die
Töchter und Söhne wollen vor Allem von Staatswegen versorgt werden.
Aber Vorurtheile, welche in einem sehr grossen Theile unseres österrei-
chischen Publicums eingewurzelt sind, schwinden nur langsam; ihnen ge-
genüber übt das gedruckte und geschriebene Wort und selbst die Schule nur
wenig Macht aus. Aber so gering man dieselbe auch anschlagen kann, so darf
man doch nicht vermeiden, diese Wege zu betreten. Gelingt es jedoch, durch
diese gewerbliche Schulbewegung die Kinder und die Eltern sozusagen
für das Gewerbe zu gewinnen, so werden die Vortheile für das Einzelne,
wie für das Ganze nicht ausbleiben. Es wird dem Gewerbestande eine
gebildetere Classe zugeführt, welche Intelligenz und Liebe zum Gewerbe
mitbringt und es wird auch bei Einzelnen die Ertindungskraft oder die
Unternehmungslust-geweckt, eigene Wege zu gehen und sich selbständig
zu etabliren. Die Geschichte des Wiener Gewerbestandes zeigt in zahl-
reichen Beispielen, dass aus Knaben, welche aus Beamtenfamilien hervor-
gehend, Unternehmungsgeist und Liebe zur Arbeit hatten, in späteren Jahren
die tüchtigsten und angesehensten Industriellen geworden sind.
Es ist unerlässlich nöthig, die Aufmerksamkeit sowohl der Eltern,
als der massgebenden Kreise auf den Punkt zu lenken, dass, wenn dem
Gewerbe genützt werden soll, die Jugend frühzeitig schon zur gewerblichen
Arbeit angeleitet werden und dass die gewerbliche Arbeit nicht nach der
Volksschule, sondern während der Zeit derselben schon beginnen muss.
Pädagogen und Staatsbeamte täuschen sich, wenn sie glauben, dass nach
der vollendeten achtjährigen Schulpflicht noch Zeit ist, in ein Gewerbe
einzutreten. Die Unzufriedenheit, die über das gegenwärtige Volksschul-
gesetz in vielen Kreisen herrscht, die man weder todtschweigen noch
wegdisputiren kann, ist wesentlich in dem Umstande zu suchen, dass
der Junge zu spät zum Gewerbe kommen kann und dass er trotz der acht-
jährigen Volksschulpfiicht nicht das lernt, was er für das Gewerbe braucht.
Die Klagen können gegenwärtig nicht verschwiegen werden, dass die
Schule zu lange dauert, dass zu Vielerlei gelehrt wird und dass nicht
das gelehrt wird, was gerade für den kleinen Gewerbestand unerlässlich
nöthig ist. Daher sehnt sich auch ein Theil des Gewerbestandes nach der
Zeit des Zunftverbandes, nach den Zuständen der verflossenen Jahrhunderte,
wo die Staatsvolksschule keinen so ausschliesslichen Einfluss auf die Bil-
dung des Gewerbestandes gehabt hat, als es gegenwärtig der Fall ist. Es
ist absolut nicht wegzuleugnen, dass die Arbeitsleistungen früherer Zeiten
durchschnittlich besser sind, als die Durchschnittsleistung der jetzigen
Zeit, dass nicht nur einzelne Städte, sondern ganze Bezirke und Provinzen
in der gewerblichen Arbeitsleistung zurückgekommen sind, wenn man ihre
heutige Arbeitsleistung mit ihrer früheren unbefangen vergleicht. Die Ab-
schwächung und Verschlechterung der Arbeitsleistung im ganzen Mittel-
europa ist eines von den vielen Symptomen der socialen Krisis der modernen
Zeit. Je nüchterner und je sachlicher man sie auffasst, desto leichter wird